„Typisch mein Mann“, sagt Heidi Wahl zu diesem Foto. Foto: Sägesser

Dieter Wahl aus Heumaden ist vor drei Monaten gestorben. Nun hat seine Frau wieder die Kraft, von ihm zu erzählen.

Stuttgart-Heumaden - Er steht am Mikrofon, weinrote Krawatte, Nadelstreifenanzug, in der Hand ein Faltblatt. Er spricht wohl, denn sein Mund ist offen. So ist die Lücke zwischen den Schneidezähnen zu sehen, die jeder kannte, der Dieter Wahl kannte. Heidi Wahl kann nicht genau sagen, wann dieses Foto geknipst wurde. Dafür sagt sie: „Typisch mein Mann.“ Deshalb hat die Heumadenerin dieses Bild ausgewählt, vergrößert und vervielfältigt. Es steht bei ihr in der Stube neben dem Esstisch.

Vor drei Monaten ist Dieter Wahl im Alter von 63 Jahren im Degerlocher Hospiz Sankt Martin gestorben. Ein Mann, der für viele zu Sillenbuch gehörte wie das Bädle. Dieter Wahl saß von 1999 bis 2012 für die CDU im Gemeinderat, vorher war er Mitglied im Bezirksbeirat, viele Jahre saß er im Kreisvorstand der Partei. Und bei den Stuttgarter Kickers hat er lange Zeit im Präsidium mitgemischt.

Um zu zeigen, wie groß die Anteilnahme gewesen ist, läuft Heidi Wahl zu einem Tisch und zeigt eine Schale, in die Briefe gequetscht sind. „Das sind sicher 400 Stück“, sagt sie. In Sillenbuch zählte der Christdemokrat zur Prominenz. Es dürfte dauern, bis die evangelische Gnadenkirche wieder so voll ist wie bei der Beerdigung.

Wenn ein Mann wie Dieter Wahl stirbt, reißt das ein Loch. So mag es seinen Freunden und Bekannten vorkommen. Seine Witwe sagt, dass es sich für sie anders anfühlt. „Wie ein Kreidefelsen auf Rügen, der abbricht. Er ist einfach weg“, Heidi Wahl schaut in den Garten. Es hat gedauert, bis sie so von ihrem Mann erzählen konnte, davon, wie er war. Die vergangenen Wochen waren ein Ausnahmezustand, und er ist noch nicht vorbei. Aber sie spürt, dass ihre Kraft langsam zurückkehrt.

Wenn Heidi Wahl an ihren Mann denkt, sieht sie nicht den vom Krebs Gezeichneten. Sie sieht ihn so wie auf jenem Foto am Mikrofon. „Er konnte vor 500 Leuten einfach reden, ohne Zettel in der Hand“, sagt sie. „Und schreiben konnte er“, manchen Antrag habe er in einer halben Stunde formuliert. Sie sieht ihn, wie er samstags die Kirchheimer Straße entlanglief mit einer Sammeldose. Dieter Wahl hat die Leute damals um eine Spende für eine Beckenheizung im Sillenbucher Freibad gebeten. „Damit das Bädle nicht geschlossen wird“, sagt Heidi Wahl. Sie sieht ihren Mann, wie er tagsüber eingenickt ist, oben auf seinem Sessel. Sie hört ihn, wie er Bürgern, die an seiner Tür klingelten, gesagt hat: „Versprechen kann ich nichts, aber ich will versuchen zu helfen.“

Wenn Rainer Kußmaul an Dieter Wahl denkt, kommen ihm unterschiedliche Gedanken. Er saß ebenfalls lang im Gemeinderat – für die SPD. Sie haben sich einige Wortgefechte geliefert, sowohl Wahl als auch Kußmaul galten als Lokalpolitiker, die kein Blatt vor den Mund nehmen. „Wir haben nicht mit dem Florett gefochten, sondern mit dem Säbel“, sagt Rainer Kußmaul. Es liegt auf der Hand, dass der Sozialdemokrat nicht nur freudige Erinnerungen an Dieter Wahl hat.

Vor zwei Jahren hat sich das Verhältnis verändert. „Wir haben unsere Gemeinsamkeiten entdeckt“, sagt Kußmaul. Sowohl die Wahls als auch die Kußmauls wohnen im Heumadener Wohngebiet Über der Straße, keine zwei Gehminuten von einander entfernt. Die Kinder sind zusammen zur Schule gegangen. Und, das nur nebenbei, sie haben bis auf die Endziffer dieselbe Telefonnummer.

Das sind freilich Äußerlichkeiten. Aber auch inhaltlich haben sich die Politiker angenähert. Rainer Kußmaul zählt in seiner Partei zu jenen, die für Stuttgart 21 sind. Es ist immer wieder vorgekommen, dass sich die Nachbarn beim Kaffee ausgetauscht haben. Sie seien es gewesen, die damals die Abkratzprämie erfunden hätten, also den Anreiz, die Gegner-Kleber von Laternenmasten zu entfernen. Zuletzt hat Rainer Kußmaul Dieter Wahl am 22. März besucht. Dem Kranken ging es den Umständen entsprechend, trotzdem haben die Männer zwei Stunden geplaudert.

Stuttgart 21 war zum Schluss das Thema der Themen für Dieter Wahl. Mal abgesehen davon, dass er ein feuriger Befürworter war, habe es ihn arg bewegt, wie das Projekt die Stadt spaltet. Dass sich die Lager im Hass gegenüberstehen. Sein wichtigstes politisches Anliegen sei gewesen, „dass wieder Frieden einkehrt in seiner Heimatstadt Stuttgart“, erzählt Rainer Kußmaul. Das habe Dieter Wahl immer wieder gesagt.

Der Verstorbene ist im Stuttgarter Osten aufgewachsen, nach Sillenbuch ist das damals junge Paar gezogen, als sie in den 70er Jahren in Heumaden gebaut haben. Das war eine Zeit, in der sich Dieter Wahl voll auf seinen Job bei einem bekannten Versicherer konzentriert hat. Die Politik war damals noch Zukunftsmusik. „Er war ein Vollblutarbeitnehmer“, sagt seine Frau. Am Tag hat er 14 bis 16 Stunden gearbeitet. „Für meinen Mann gab es entweder ganz oder gar nicht, halbe Geschichten hat er nie gemacht. Bis zur letzten Minute.“