Kiew am Donnerstag: Menschen eilen mit Gepäck in eine Bahnstation. Foto: dpa/Emilio Morenatti

Vladislava Naboka lebt mitten in Kiew. Die 32-Jährige sitzt verzweifelt auf gepackten Taschen: Wohin soll sie nur fliehen? Der 27-jährige Anton Schewtschenko ist bereits aus seiner Wohnung geflüchtet. Persönliche Berichte aus einer Stadt am Abgrund.

Stuttgart - Der Angriff auf ihr Land riss am frühen Donnerstagmorgen viele Ukrainer aus dem Schlaf. Nun greift die Unsicherheit um sich. Vladislava Naboka, eine 32 Jahre alte Vertriebsmitarbeiterin aus dem Süden von Kiew, berichtet, wie sie die vergangenen Stunden erlebt hat:

„Mein Freund hat mich heute morgen gegen sechs Uhr geweckt, dabei geht unser Wecker sonst erst um sieben Uhr. Er habe etwas gehört, sagte er, ungewöhnliche Geräusche, einige Kilometer entfernt. Wir vermuteten, dass sie aus Richtung Boryspel kommen, wo es einen Flughafen gibt. Ob es Explosionen waren, konnte er nicht genau sagen. Die nächste halbe Stunde habe ich Nachrichten gelesen und gegoogelt, ich war in einer Schockstarre.

Gestern hatte ich noch mit meinen Schwestern Pläne fürs Wochenende geschmiedet. Da hatte ich noch gehofft, dass es nicht zum Krieg kommt. Dabei wissen wir schon, was Krieg bedeutet – ich selbst bin in der Donezk-Region geboren und habe dort und auf der Krim Verwandte. Und nun ist er also auch hier.

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Wir sind dann erst einmal zum Supermarkt gelaufen, wo schon Hunderte Menschen warteten. Dann wurde uns klar: Wir brauchen Bargeld. Es war ein echtes Abenteuer, an Geld zu kommen, anderthalb Stunden stand ich an einem Bankautomaten an, um 3000 Hrywnija abzuheben, etwa 100 Dollar. Mehr hat der Automat nicht ausgegeben. Nachdem wir eingekauft hatten, sind wir wieder nach Hause.

Die letzten zwei Stunden waren die Schlimmsten. Wir haben gehört, dass russische Soldaten bereits in der Region um Kiew unterwegs sind. Ich habe große Angst. Unsere Notfallrucksäcke sind jetzt gepackt, nicht zu schwer – damit wir notfalls schnell wegkönnen. Wir überlegen, wo wir hinkönnten und wo es sicher ist. Ein Auto haben wir leider nicht und Fahrkarten für die Züge sind auch schon überall ausverkauft.“

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Auch Anton Schewtschenko, 27, Mitarbeiter einer Entwicklungshilfeorganisation aus Kiew, schildert im Gespräch mit unserer Redaktion seine Gefühlslage:

„Meine Frau wurde am frühen Morgen von einem Anruf ihrer Großmutter geweckt, die von Explosionen in der Stadt gehört hatte. Ich versuchte sofort, an Informationen zu kommen. Freunde aus dem Süden Kiews erzählten mir, dass auch sie Explosionen gehört hatten. Wir entschieden, unser Apartment zu verlassen, denn wir fühlten uns dort nicht sicher. Wir leben in einem hohen Wohnblock mitten in der Stadt, der viel Angriffsfläche bietet. Jetzt sind wir bei der Großmutter meiner Frau untergekommen – sie wohnt in einem Haus mit Keller, das war uns wichtig.

Wir haben uns bewusst entschieden, die Stadt nicht zu verlassen. Die Straßen in Kiew sind sehr breit, dort ist man bei einem Luftangriff schutzlos. Wir haben seither zwei Mal Fliegeralarm gehört. Wir haben Angst, und obwohl wir natürlich etwas ahnten, sind wir schockiert. Schon der gestrige Tag erschien uns völlig surreal: Es passierte nichts, aber wir hatten das sichere Gefühl, dass etwas Großes auf uns zukommt. Unser Land ist ja faktisch umzingelt.

Aber trotz all der Unsicherheit haben wir auch Hoffnung. Wir glauben mit vollster Überzeugung an unsere Armee. Wir wissen, wo der nächste Luftschutzbunker ist. Wir haben genug Essen und Trinken auf Vorrat. Wir halten uns jetzt einfach an das, was unsere Regierung sagt.

Wir sind uns sicher, dass Russlands imperiale Ambitionen gebrochen werden. Vom Westen erwarten wir kein militärisches Eingreifen. Aber was jetzt kommen muss, das sind die härtesten Sanktionen, die es je gegen ein Land gegeben hat. Und wir brauchen Waffen – von allen westlichen Staaten, nicht nur von ein paar wenigen.“

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Marija ist 28 Jahre alt, arbeitet freiberuflich als Übersetzerin und lebt in Krakowez. Die Siedlung mit rund 1160 Einwohnern gehört zum Oblast Lemberg und liegt an der Grenze zu Polen.

„Drei Stunden habe ich in der Schlange vor dem Bankautomaten gestanden. Erst jetzt bin ich wieder zu Hause bei meiner Familie. Ich lebe mit meinem Mann und drei kleinen Kindern bei meinen Eltern in Krakowez an der polnischen Grenze. Bei meinen Eltern fühle ich mich gerade am sichersten.

Nicht nur vor den Geldautomaten bilden sich lange Schlangen – auch vor Supermärkten und Tankstellen. Alle haben Angst. Die Menschen wissen nicht, was sie alles kaufen sollen. Ich war auch in einer Apotheke, um das Nötigste zu besorgen. Mein Mann ging währenddessen einkaufen. Mein Vater war in einem Laden, in dem bereits alle Regale leer waren.

Wir hoffen, dass Russland in der Nähe zu Polen keine Attacke wagt und dass es hier zu keinen Luftangriffen kommt. Das Haus hat einen Keller, ich weiß aber nicht, ob er vor Raketen schützt.

In Iwano-Frankiwsk hat es bereits russische Luftangriffe gegeben. Aktuell sehe ich kein Fernsehen. Die Informationen erreichen uns nicht schnell genug. Ich nutze die sozialen Netzwerke. Dort ist vor kurzem eine Liste mit vertrauenswürdigen Medien veröffentlicht worden.

Viele kaufen sich Versicherungen und fahren zur polnischen Grenze. Ich kann das Land gerade nicht verlassen, da ich keinen gültigen Pass habe. Wenn die Situation schlimmer wird, ist das für mich aber kein Hinderungsgrund, um doch in den Westen zu fliehen.“