Das hat es wohl noch nie gegeben: Eine Bayreuther Premiere ohne volles Haus. Die Corona-Festspiele in diesem Jahr dürften Geschichte schreiben – und die Pandemie ist nicht der einzige Grund für historische Momente.
Bayreuth - Jahrelang war es ein ungeschriebenes Gesetz: Bayreuther Festspiele? Volles Haus! Doch in diesem Jahr ist selbst dort alles anders, wo es immer noch keine Klimaanlage gibt, weil die zu Richard Wagners Zeiten noch nicht erfunden war. Die Hälfte der Plätze im Festspielhaus wird leer bleiben bei der Premiere einer Neuinszenierung der Oper „Der fliegende Holländer“ an diesem Sonntag – und die andere Hälfte nur besetzt von Zuschauern, die eine abgeschlossene Corona-Impfung, eine Genesung oder einen negativen Test vorlegen können.
Wegen der Corona-Pandemie sind statt der üblichen rund 2000 Gäste nur 911 Zuschauer erlaubt. Und das ist noch nicht alles. Es soll keinen roten Teppich geben und keinen Staatsempfang nach der Premiere – und ob Festspiel-Stammgast Angela Merkel (CDU) zur Eröffnung kommt, war auch wenige Tage vorher noch unklar.
Komparsen vertreten den Chor
Ein weiteres Novum in der Festspiel-Geschichte: Der berühmte Bayreuther Chor soll nicht live im Festspielhaus singen, sondern von einer anderen Bühne aus eingespielt werden. So versprechen sich die Festspiele weniger Gefahr durch Aerosole. Damit das nicht so auffällt, sollen nicht-singende Komparsen den Chor auf der Bühne vertreten.
Vieles soll in diesem Jahr außerdem draußen stattfinden, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren. Nach den positiven Erfahrungen mit dem Outdoor-Intermezzo am Festspielteich in Tobias Kratzers „Tannhäuser“ 2019 wird der Tümpel am Fuße des Grünen Hügels auch 2021 wieder zum Schauplatz. Der österreichische Regisseur Nikolaus Habjan bringt dort „Noch immer Loge“ auf die Bühne unter freiem Himmel – ein Puppentheater, in dem die Rheintöchter und Erda über Loge zu Gericht sitzen, wie Habjan sagte. „Nach der Götterdämmerung, nach dem Weltenbrand, wollten wir schauen: Wer bleibt übrig.“
Der Blutkünstler Hermann Nitsch verspricht intensive Kunst
Eigentlich sollte schon im vergangenen Jahr eine Neuinszenierung von Richard Wagners vierteiligem „Ring des Nibelungen“ in Bayreuth auf die Bühne kommen. Das Projekt wurde wegen Corona aber auf 2022 vertagt. Als eine Art Ersatz dafür soll es zu jeder der vier „Ring“-Opern ein Projekt geben. Habjan hat das „Rheingold“ übernommen, „Blutkünstler“ Hermann Nitsch wird die „Walküre“ inszenieren und verspricht „intensive Kunst“ und einen „Farbrausch“. Der US-amerikanische Regisseur Jay Scheib präsentiert ein Multimedia-Projekt zum „Siegfried“ und die japanische Künstlerin Chiharu Shiota ein Kunstwerk zur „Götterdämmerung“.
Dazu gibt es Wiederaufnahmen der gefeierten Inszenierungen des „Tannhäuser“ und der „Meistersinger von Nürnberg“ – sowie ein Wiedersehen mit dem lettischen Star-Dirigenten Andris Nelsons, der zwei Konzerte dirigieren wird. Er hatte für einen der fast schon traditionellen Bayreuther Eklats gesorgt, als er 2016 – wenige Wochen vor der Premiere – als Dirigent des „Parsifal“ überraschend das Handtuch warf und um Auflösung seines Vertrages bat. Gemunkelt wurde damals, dass der damalige Musikdirektor Christian Thielemann sich zu sehr in Nelsons Arbeit eingemischt habe. Von Thielemann, der seit Jahresbeginn nicht mehr Musikdirektor der Festspiele ist, weil sein Vertrag nicht verlängert wurde, wird wenig zu hören sein in diesem Jahr. Er dirigiert nur einen konzertanten „Parsifal“.
Zum ersten Mal eine Frau am Dirigentenpult
Der erklärte Höhepunkt des Jahres ist gleichzeitig ein tatsächlich historischer Moment: Zum ersten Mal in 145 Jahren Festspielgeschichte wird eine Frau am Dirigentenpult von Bayreuth stehen. Die 43 Jahre alte Oksana Lyniv schreibt mit ihrem Dirigat der Oper „Der fliegende Holländer“ Musikgeschichte. „Es ist schon besonders, dass in 2021 es 145 Jahre Bayreuther Festspiele sein werden, mit bis dato 92 Männer-Dirigenten und dann eben auch erstmals einer Frau“, sagte sie im dpa-Interview. Bei all dem Wirbel um sie geht der Regisseur der Inszenierung, Dmitri Tcherniakov, beinahe unter. John Lundgren singt den „Holländer“, Asmik Grigorian die Senta in ihrem Bayreuth-Debüt - und Georg Zeppenfeld den Daland.
Festspiel-Intendantin Katharina Wagner hatte nach eigenen Angaben keine Zweifel daran, dass das Opern-Spektakel in diesem Jahr stattfinden kann. Die größte Herausforderung sei dennoch gewesen, „den Mut nicht zu verlieren und alles dafür zu tun, damit Festspiele in diesem Jahr wieder möglich sind“.
Enormer wirtschaftlicher Schaden
Dankbar ist sie den Gesellschaftern, denn normalerweise bestreiten die Festspiele nach Angaben von Ex-Geschäftsführer Holger von Berg den laufenden Betrieb zu 65 Prozent aus Einnahmen. Rund 15 Millionen Euro fehlten 2020, weil die Richard-Wagner-Festspiele wegen der Corona-Pandemie nicht stattfinden konnten. Die Gesellschafter - die Bundesrepublik, der Freistaat Bayern, die Stadt Bayreuth und die Gesellschaft der Freunde von Bayreuth – werden ausgleichen müssen, was fehlt.
Auch in der Stadt Bayreuth fiebert man den Festspielen nach der Durststrecke im vergangenen Jahr entgegen. Der wirtschaftliche Schaden, der vor allem den Hotels und Gaststätten in Stadt und Region durch die Absage entstanden war, lässt sich nach Worten von Oberbürgermeister Thomas Ebersberger (CSU) nicht konkret beziffern. Wenn aber in eine Stadt mit 74 000 Einwohnern in der Festspielzeit täglich etwa 2000 zusätzliche Gäste kämen, sei das ein extrem wichtiger Wirtschaftsfaktor. Auch Manuel Becher, Chef der Bayreuth Marketing & Tourismus GmbH, sagt: „Der Ausfall war immens.“