Wie lernt man eigentlich, wenn man ständig auf Reisen ist? Zirkuskinder haben keinen geregelten Schulalltag. Sie werden an Stützpunktschulen individuell unterrichtet. Eine der Lehrerinnen in der Region ist Sabine Biebries, die auch im Kreis Esslingen tätig ist.
Sie ziehen von Festplatz zu Festplatz, vom Jahrmarkt zur Kirmes und weiter zum Weihnachtsmarkt, sie sind große Teile des Jahres unterwegs und leben mit ihrer Familie im Wohnwagen: Das Leben von Kindern und Jugendlichen aus Zirkus- und Schaustellerfamilien besteht aus ständigen Ortswechseln – trotzdem gilt auch für sie die Schulpflicht. Manchmal besuchen sie im Wochenrhythmus neue Schulen. Ständig müssen sie sich auf neue Mitschüler, Lehrkräfte, Schulbücher und Unterrichtsinhalte einstellen. Damit das gelingen kann, werden sie in Baden-Württemberg von Bereichslehrkräften wie Sabine Biebries individuell betreut und unterstützt.
Im Winter gehen die Kinder am Wohnort zur Schule
Sabine Biebries ist Grund- und Hauptschullehrerin, an zwei halben Tagen pro Woche unterrichtet sie an einer Schule, für 80 Prozent ihrer Stelle ist sie vom Kultusministerium abgeordnet für die Beratung und Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Familien beruflich Reisender. Dazu zählen Schausteller auf Jahrmärkten oder Zirkusse, Mitwirkende bei Stunt- oder Monstertruck-Shows, ambulante Händler und Markt-Kaufleute, Puppenspieler, reisende Handwerker und Saisonarbeiter, Binnenschiffer und beruflich reisende Sinti und Roma.
Während des Winterquartiers besuchen die Kinder die Schule an ihrem Wohn- und Meldeort. Diese Stammschule führt die Schülerakte und entwickelt den individuellen Lernplan in den Fächern Deutsch, Mathematik und der ersten Fremdsprache, sie stellt Lernmaterialien für die Reise zur Verfügung, und sie verfasst die Zeugnisse. Sind sie auf Reisen, besuchen die Kinder sogenannte Stützpunktschulen in der Nähe des Standplatzes ihrer Eltern. Bindeglied zwischen den Schulen, den Eltern und den Kindern ist die Bereichslehrkraft, die bei der Suche nach geeigneten Schulen hilft, die An- und Abmeldungen regelt. Sie unterstützt die Kinder, hilft ihnen bei den Hausaufgaben und fördert sie, wenn nötig, auch individuell. Sie berät die Eltern, wenn es um die schulische Entwicklung ihrer Kinder geht, und sie informiert Schulen und Lehrkräfte, die die Kinder und Jugendlichen aufnehmen.
Zirkuskinder gelten als gut erzogen
Sabine Biebries, die für die Schulbildung von Kindern beruflich Reisender im Großraum Stuttgart und in den Landkreisen Rems-Murr, Ludwigsburg und Esslingen zuständig ist, betreut derzeit etwa 15 Kinder. Eines davon ist ein Mädchen im Vorschulalter, dem sie zu einem guten Schulstart verhelfen möchte: „Es gibt für die Kinder beruflich Reisender keine Chance, einen Kindergartenplatz zu erhalten. So mache ich mit ihr all das, was sonst im letzten Kindergartenjahr als Vorbereitung für die Schule gemacht wird: den Stift richtig halten, Schwungübungen, Ausschneiden, das Erfassen von Mengen und Konzentrationsübungen.“ Die Schulkinder erhalten durch Sabine Biebries zusätzlich zum regulären Unterricht stundenweise Extra-Förderunterricht – auf der Basis ihres individuellen Lernstands. Entweder direkt an der Stützpunktschule oder im Wohnwagen auf dem jeweiligen Standplatz.
Da vor allem Schaustellerfamilien übers Jahr gesehen regelmäßig durchs Land touren, kennt Sabine Biebries die meisten Kinder, die turnusmäßig wieder auf dieselbe Stützpunktschule gehen. „Viele betreue ich jetzt seit sechseinhalb Jahren, seit ich diese Aufgabe übernommen habe. Das ist anders als wenn man ein Kind nur ein Schuljahr unterrichtet. Natürlich wachsen einem die Kinder ans Herz.“ Sie schätzt die gute Erziehung der Zirkuskinder: „Sie sind Erwachsenen gegenüber äußerst höflich, weil sie wissen: Jeder könnte unser Kunde sein.“
Direkt am Cannstatter Wasen aufgewachsen
Die Betreuung der Kinder beruflich Reisender ist für Sabine Biebries eine Herzensangelegenheit. Sie selbst ist direkt am Cannstatter Wasen aufgewachsen: „Das Zirkusleben hat mich schon als Kind fasziniert. Ein Schaustellerjunge war jedes Jahr während des Frühlings- und während des Volksfestes mein Mitschüler. Und irgendwann war dann sein Sohn jedes Jahr in der Klasse meines Sohnes. Der Kontakt besteht bis heute.“
Sie weiß um die schwierigen Lernumstände: „Wenn ein Kind jede Woche weiterreist, passiert es, dass es in der ersten Klasse fünfmal hintereinander den gleichen Buchstaben lernt, ein anderer aber gar nicht drankommt – wie soll da die Alphabetisierung funktionieren? Das kann schon sehr früh zu Schulfrust führen.“
Mit der fehlenden Kontinuität des Lebens auf Reisen kommen die Kinder unterschiedlich gut zurecht, erzählt Biebries: „Es hängt von der Klassenstufe ab, von der Lehrkraft und vom Kind selbst: Es gibt manche, die nur in der Ecke sitzen. Manche werden aggressiv, weil sie sich abgelehnt fühlen. Und andere fühlen sich total wohl und finden ruckzuck neue Freunde.“
Beim Zeltaufbau wird jede Hand gebraucht
Die Kinder erhalten Reisetage für die Fahrt an den nächsten Gastspielort genehmigt. „Dabei kommt es vor allem bei kleinen Familienzirkussen häufig vor, dass die Kinder nur von Dienstag bis Donnerstag in der Schule sein können, weil montags ab- und freitags schon wieder aufgebaut wird“, kennt Sabine Biebries die Probleme. Und sie weiß auch, dass viele der Kinder von klein auf im elterlichen Zirkus mitarbeiten: „Beim Zeltaufbau wird jede Hand gebraucht. Die Kinder sind an der Kasse oder beim Popcorn-Verkauf im Einsatz, und oft treten schon die Kleinsten in der Manege auf, als Clown oder als Artistin. Das Unternehmen Familienzirkus funktioniert nur, weil die Familie zusammenhält.“
Sabine Biebries betont, wie schwer es ist, unter diesen Bedingungen einen Schulabschluss zu schaffen: „Es gibt bei den Kindern beruflich Reisender signifikant viel mehr Schulabbrecher als bei den Kindern von Sesshaften.“ Auch wenn sie weiß, dass die meisten Zirkuskinder ihre berufliche Zukunft im Zirkus sehen, macht sie sich in den Gesprächen mit den Eltern und den Jugendlichen für eine gute Ausbildung stark: „Sie müssen gut lesen, schreiben und rechnen lernen, denn sie müssen sich später bei der Gemeindeverwaltung um einen Standplatz bewerben, sie müssen Flyer und Plakate formulieren, sie müssen die Kasse führen und die Buchhaltung machen.“
Ein Schultagebuch weist den Lernerfolg nach
Basis
Damit bei der Schulausbildung von Kindern beruflich Reisender, die manchmal wöchentlich andere Schulen besuchen, nicht der rote Faden verloren geht, gibt es ein Schultagebuch, das die Basis für den Informationsaustausch zwischen Stammschule, Stützpunktschule, Bereichslehrkraft und Eltern bildet.
Inhalt
In dem Schultagebuch werden unter anderem die behandelten Inhalte, der Lernprozess sowie die Lernpläne in den Fächern Deutsch, Mathematik und einer Fremdsprache dokumentiert. Es weist die Erfüllung der Schulpflicht und den Lernfortschritt nach und zeigt, welche Kompetenzen von den Schülern erworben wurden. Das bundesweite Pilotprojekt Diglu (Digitales Lernen unterwegs) soll dabei helfen, eine vergleichbare schulische Bildung reisender Kinder in den einzelnen Bundesländern sicherzustellen. Derzeit wird damit erprobt, wie sich das Schultagebuch auch in digitaler Form führen und bearbeiten lässt.