Leben in drei Welten: Henry Kandler (1929–2023) Foto: /Archiv Kurz

Ein „Entkommener“ sei er, sagte Henry Kandler einmal. Entkommen vor dem Naziterror, der vielen aus seiner Familie das Leben kostete. Der gebürtige Stuttgarter war aber auch ein Zurückgekommener. Als Zeitzeuge suchte er das Gespräch mit den Jungen.

Die Stimmen von Zeitzeugen werden leiser. Viele sind schon verstummt, weil ihre Zeit abgelaufen ist. Zu diesen Verstummten gehört nun auch Henry Kandler, der am 5. September 1929 als Heinz Otto Kahn in Stuttgart geboren wurde und jetzt 94-jährig in New York verstorben ist. Damit endet ein Leben, das sich in verschiedenen Welten abgespielt hat.

Die erste Welt war Stuttgart, wo Heinz mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Gert in einer nicht religiösen jüdischen Familie aufwuchs. Sie wohnten im Herdweg. Sein Vater, Rudolf Kahn, leitete einen gut gehenden Textilbetrieb in Laichingen. 1937 zwangen ihn die Nazis, die Fabrik zu verkaufen. Auch ihre Wohnung mussten sie aufgeben. Nach der Reichspogromnacht 1938 wurden Rudolf Kahn und dessen Vater Paul in der Gestapo-Zentrale im Hotel Silber verhört und zeitweise nach Dachau gebracht.

In New York wurde er Kinder- und Jugendpsychiater

Die Familie erkannte die heraufziehende Gefahr. Mit einem der von der britischen Regierung ermöglichten Transporte für insgesamt 10 000 jüdische Kinder wurden Heinz und Gert nach England geschickt – die zweite Welt, in der aus Heinz Henry wurde und aus dem Kind ein Jugendlicher. Sechs Jahre lang verbrachten er und sein Bruder bei ihrem Onkel in London. Pläne für eine Familienzusammenführung in der Schweiz scheiterten. Den Eltern, Rudolf und Grete Kahn, gelang es, sich 1941 nach Amerika zu retten. Die Kahns nannten sich dort Kandler. In einer Weberei in New York fanden sie eine Anstellung.

1944 holten sie ihre Söhne aus England nach New York. Henrys dritte Welt, in der er bleiben, eine Familie gründen und Karriere als Kinder- und Jugendpsychiater und Professor am Albert-Einstein-College machen sollte. Sein Bruder Gert wurde Menschenrechtsanwalt, er ein Experte für Traumata. Nach dem Anschlag auf das World-Trade-Center 2001 behandelte der dreifache Vater Kinder, die ihre Eltern verloren hatten.

Henry Kandler hatte selbst vieles zu verarbeiten: Acht ihm nahestehende Verwandte waren im Naziterror umgekommen, darunter seine Großeltern. Die Großmutter wurde in Auschwitz ermordet, der Großvater in Theresienstadt. Henrys Vater schrieb auf, was ihnen als Familie widerfahren war – ein Dokument der Zeitgeschichte. Rudolf Kandler verstarb 1975 in Philadelphia.

Das schlimme Gefühl, ausgegrenzt zu sein

Henry ging den Schritt zurück nach Stuttgart, jedoch nur besuchsweise. Er suchte das Gespräch mit der jungen Generation und nahm an Podiumsdiskussionen teil. 2016 stellte er sich für ein von der Stadt finanziertes Filmprojekt zur Verfügung, bei dem Stuttgarter Jugendliche 23 Zeitzeugen zu ihren Erlebnissen in der Nazizeit interviewten. Er schilderte, was es mit einem macht, wenn man ausgegrenzt wird und auf Schilder blickt, auf denen „Juden unerwünscht“ steht.

Einige Jahre zuvor hatte Henry Kandler Laichingen besucht, wo die Textilfirma seines Vaters stand. Nach dem Krieg hatte Rudolf Kandler den geraubten Betrieb zurückerhalten – der Versuch einer Wiedergutmachung. Eine Rückkehr kam für ihn jedoch nicht in Frage. Er trennte sich von der Weberei. Henry Kandler war interessiert, den Ort nach so vielen Jahren zu sehen. 2013 folgten er und Frau einer Einladung des gebürtigen Laichingers Kurt Wörner. Dieser hatte sich in den 1970er Jahren in einer Zulassungsarbeit für das Lehramt mit der Laichinger Textilindustrie beschäftigt und Kontakt mit Rudolf Kandler in den USA aufgenommen.

Kandler sandte ihm eine Familien-Erinnerungen und Informationen über die Hintergründe der erzwungenen Übergabe seiner Firma an einen Nazi namens Weiss – heute nachzulesen im Laichinger Stadtarchiv. Später suchte Wörner Kontakt zu Kandlers Sohn Henry, der sich sehr aufgeschlossen zeigte. Rückblickend spricht Wörner von einem „beeindruckender Besuch mit zahlreichen Kontakten mit der Laichinger Bevölkerung und diversen Schulklassen“.

Das passt ins Bild. In der unter anderen von den Stuttgarter Stolperstein-Initiativen, der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber, der Geschichtswerkstatt Stuttgart-Nord und dem Haus der Geschichte gezeichneten Traueranzeige wird Kandler auch als „einfühlsamer Gesprächspartner für Jugendliche in Stuttgart und in New York“ gewürdigt. Über der Anzeige steht ein Satz des Philosophen Ernst Bloch: „Nur solche Erinnerung ist fruchtbar, die zugleich daran erinnert, was noch zu tun ist.“

Ein „Mitstreiter“ für den Erhalt des Hotels Silber

Dass noch vieles zu tun ist, davon war Henry Kandler überzeugt. Deshalb engagierte er sich nachdrücklich für den Erhalt des Hotels Silber, das nach den Plänen der Firma Breuninger, die 2008 vorgestellt wurden, einem Neubau weichen sollte. Für Kandler war die ehemalige Gestapozentrale „die Höhle des Löwen“ – so auch der Titel der vom Stadtarchiv Stuttgart herausgegebenen Erinnerungen seines Vaters. Der Schreckensort ließ sich nicht beseitigen, indem man ihn abreißt, sondern indem man den Opfern und dem Gedenken an sie Raum darin gibt. In einem Brief an Breuninger schrieb er: „Ich würde das ,Hotel Silber‘ gerne als einen Ort bewahrt wissen, der an dunkle Zeiten erinnert, die sich nie mehr wiederholen dürfen.“ Dieser Wunsch ist eingetreten. Zumindest, was das Gebäude betrifft. Seit 2018 stellt sich das Hotel Silber genau als ein solcher Lern- und Gedenkort dar.

Ein Verdienst besonders auch der gleichnamigen Initiative um Harald Stingele, der Henry Kandler als „Mitstreiter für die Erhaltung und die Entwicklung des ,Hotel Silber‘“ würdigt; der Eröffnung wohnte der „Mitstreiter“ persönlich bei. Mit Susanne Bouché von den Stuttgarter Stolperstein-Initiativen und anderen will Stingele dafür Sorge tragen, dass Zeitzeugen wie Henry Kandler mit ihrer Botschaft weiterhin Gehör finden. Auch wenn sie nicht mehr da sind.