Claude Lanzmann hat mit seinen Filmen über den Holocaust stets auch die Gegenwart beschrieben. Foto: AFP

Im Alter von 92 Jahren ist am Donnerstag in Paris der französische Dokumentarfilmer und Autor Claude Lanzmann gestorben. Weltberühmt machte ihn sein 1985 veröffentliches Neun-Stunden-Werk „Shoah“ über die Vernichtung der europäischen Juden.

Paris - „Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive.“ So erläutert Hannah Ahrendt 1964 den von ihr für Adolf Eichmann ein Jahr zuvor geprägten Begriff der „Banalität des Bösen“.

Claude Lanzmann lehnt diesen Begriff ab. Und doch schließt er in seiner Idee, das banal Böse mit filmischen Mitteln sichtbar zu machen, an Ahrendts Herangehensweise an. Lanzmanns Interesse gilt nicht der Aufdeckung, sondern der Sichtbarmachung. 1985 beendet Lanzmann sein Hauptwerk. Neuneinhalb Stunden lässt er im Dokumentarfilm „Shoah“ Opfer und Täter des Holocaust, der Vernichtung der europäischen Juden durch Hitler-Deutschland, zu Wort kommen.

Archivbilder verwendet Lanzmann nicht. Ruhig beginnt der Film, ein Zug mit Dampflok rüttelt sich durch schön anzuschauende Landschaften. Lachend fast erzählt der Lokomotivführer von den Fahrten in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, völlig selbstverständlich beantwortet er die Fragen, ob er wisse, wer hier oder dort einmal gewohnt habe. Natürlich antwortet der, weist auf Häusergruppen, lacht. Der Tod – er ist in den Erzählungen des Lokomotivführers eine pure Begleiterscheinung einer Gegenwart, in der die Juden nur mehr Erinnerung sind.

Beklemmende Interviews

Täter, Opfer, Beteiligte, Beobachter – schon hier lässt Lanzmann die Grenzen verschwimmen. Und überschreitet dafür auch die Grenzen der filmischen Mittel. Interviews mit Tätern werden mit versteckter Kamera und verstecktem Mikrofon heimlich mitgeschnitten. Und doch macht gerade dies erst die Identifikation der unauflösbaren Verbindung zwischen dem Banalen und dem Bösen deutlich. Ein ehemaliger Mitorganisator der industriellen Ermordung beharrt in einer der beklemmendsten Interviewsequenzen auf der Perfektion und Sauberkeit der „Abläufe im Lager“.

13 Jahre arbeitet Lanzmann an „Shoah“, von 1972 bis 1985. „Shoah“ ist eine Dokumentation – und geht doch weit darüber hinaus. Es ist ein Film über die Möglichkeiten einer Dokumentation, ist in der Analyse der historischen Verhältnisse zugleich eine Bestandsaufnahme der Gegenwart der 1970er und frühen 1980er Jahre. In seinem 2009 erschienenen Erinnerungsbuch „Der patagonische Hase“ beschreibt Lanzmann das Entstehen von „Shoah“. Auch in diesem Lebensrückblick ist Lanzmann am besten, wenn der Schrecken völlig beiläufig kommt, ja, so schnell vergeht, dass man ihn angesichts des nächsten Schreckens kaum mehr erinnert – und er sich eben doch einprägt.

Plötzlich im Lager

Wie in der knappen Episode mit Wendi von Neurath, die Lanzmann 1946 über Michel Tournier und seine Studien an der Universität Tübingen kennenlernt. Das Gut der Familie liegt vor den Toren Stuttgarts und erscheint Lanzmann bis in die Strukturen der Ergebenheit zahlloser Angestellter hinein als nahezu unversehrt. Und bei einem Spaziergang über den Besitz führt Wendi von Neurath den jungen Franzosen in „Baracken mit hölzernen Stockbettgestellen, langen Reihen von Latrinen, einem Galgen, Peitschen, Häftlingskleidung mit Streifen, Holzschuhen, einem unerhörten, noch deutlichen Durcheinander“. Lanzmann ist, „ohne dass irgendetwas – eine Grenze, ein Zeichen, eine Markierung – es angezeigt hätte, im Inneren eines Konzentrationslagers“.

Eine Ersterfahrung, eingebettet in die Skizze des vormaligen Selbstverständnisses des Grauens. Aber schon hastet Lanzmann in seinem Erinnerungsbuch „Der patagonische Hase“ weiter, zum nächsten Ort, in ein nächstes Jahrzehnt. Man spürt eine Atemlosigkeit, die nicht zu den Filmen Lanzmanns passt. Noch vor Erscheinen des Buches führt diese Beobachtung 2009 zu einer Umkehrung der Verhältnisse. Eine Debatte um Erinnerung als Wahrheit und Erinnerung als Teil eines Realitätsganzen beginnt, eine Debatte zuletzt über Claude Lanzmann und seine Arbeit an sich. Das Ergebnis? Absolution für Lanzmann – mit dem aber bedenkenswerten Hinweis, dass es bei Lanzmanns Arbeit und also auch bei seinen Erinnerungen nicht um Realität gehen könne, sondern um deren Verdichtung. Ein zweifelhafter Ruhm, der die filmische Arbeit Lanzmanns unterminiert und seine Autobiografie in unberechtigte Höhen hievt.

Hoffnung Europa

„Shoah“ – ein Jahrhundertwerk – provoziert ja eben nicht den Triumph des Banalen. Vielmehr bestimmt die Frage den Film. Und eine Hoffnung zudem. Eine durch den Lebensmut auch von Lanzmann selbst durchdrungene Hoffnung: Europa. „Ich ging 1947 nach Deutschland“, notiert Lanzmann in „Der patagonische Hase“. „Dabei hatte ich den Krieg mitgemacht, gegen die Deutschen gekämpft und auch wirklich Deutsche getötet. 1943 als 18-Jähriger organisierte ich die Résistance in meiner Schule dem Lycee Pascal in Clermont Ferrand. Aber für uns blieb Deutschland – und das ist sehr seltsam – das Heimatland der Philosophie.“

Als Lanzmann 1950 nach Paris zurückkehrt, ist er ein vielgefragter Zeuge des neuen deutschen Lebens. Jean-Paul Sartre überredet ihn zur Mitarbeit an der Zeitschrift „Les Temps modernes“. Sartre hat sie gemeinsam mit Simone de Beauvoir gegründet – zu dritt will man sie etablieren. Buchstäblich zu dritt leben und arbeiten Sartre, de Beauvoir und Lanzmann die nächsten Jahre auch. Und Simone de Beauvoir bleibt nach Ende der Affäre bis zu ihrem Tod 1968 eine wichtige Ratgeberin.

Ja, der Filmemacher Claude Lanzmann war als öffentlicher Mensch gerne mal eine Spur zu laut, zu wichtig. Aber auch ungemein einnehmend, Mut machend. Gerade auch im Gespräch mit Jüngeren. Am Donnerstag ist Claude Lanzmann im Alter von 92 Jahren in Paris gestorben.