Wolodymyr Selenskyj ist in der größten Krise der Ukraine zu einem Staatsmann gereift, auf den die Welt mit Hochachtung blickt. Das war nicht immer so.
Stuttgart - Was ist das für ein Unterschied! Wenn sich Wladimir Putin an die Bevölkerung wendet, dann sitzt der russische Präsident eingerahmt zwischen den Trikoloren, mit makellos gebundener Krawatte und mit staatstragendem Blick. Wolodymyr Selenskyj huscht irgendwo durch Kiew, trägt khakifarbene Shirts und dunkle Augenringe. Wenn sich der ukrainische Präsident an die Welt wendet, dann sehen seine Aufnahmen aus wie die Videos der letzten Klassenfahrt. Verwackelt, mit dem Handy aufgenommen, geteilt in den sozialen Netzwerken Twitter und Facebook.
Und was ist das erst für ein Unterschied in den Worten. Man muss schon ein sehr eigenwilliges Geschichtsverständnis offenbaren, wenn man dem russischen Präsidenten bei seinen hölzernen Ausführungen zustimmen möchte. Und man braucht ein ziemlich kaltes Herz, wenn einem Selenskyjs Worte nicht unter die Haut gehen. Da kämpft einer für sein Land, für die Menschen in der Ukraine, für die Freiheit der Welt. Es scheint, als werde es nicht lange dauern, bis sie diesem Präsidenten Denkmäler bauen. Wenn er, was manch ein westlicher Geheimdienst befürchtet, von tschetschenischen Meuchelmördern dahingerafft wird, dann erst recht. Der ukrainische Präsident ist zum Gesicht der Freiheit geworden.
Mit zentralen Zielen gescheitert
Noch vor einem halben Jahr wäre dies undenkbar gewesen. Da war Selenskyj ein Politiker, der um seine Wiederwahl fürchten muss. Ein Präsident, der 2019 angetreten war, den Krieg im Osten zu beenden. Er ist damit gescheitert. Ein Präsident, der das Land von der Korruption befreien wollte. Auch das gelang ihm nicht. Schlimmer noch: Als im Oktober 2021 die sogenannten Panama-Papers weltweit für Furore sorgten, da tauchte auch der Name des ukrainischen Präsidenten in den Papieren auf. Selenskyj soll wohl von heimlichen Offshore-Deals profitiert haben.
Mit Korruption und der Verschwendungssucht einer korrupten Politikerkaste kennt sich Selenskyj aus – wenn auch auf einer völlig anderen Grundlage. Man schreibt das Jahr 2015. Der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch war mit Schimpf und Schande aus dem Land verjagt worden, in Massen pilgerten die Ukrainer auf sein Privatanwesen, um seinen Pomp zu betrachten. Da erscheint die erste Folge einer Fernsehserie mit dem Titel „Diener des Volkes.“ Wolodymyr Selenskyj spielt einen Geschichtslehrer, den es ins Präsidentenamt spült. Der Palast von Janukowitsch wird zur Kulisse, als der Fernsehpräsident den Kronleuchter bestaunt, und ein Mitarbeiter lapidar erklärt, dass der acht Millionen gekostet hätte. Damit ist nicht die Landeswährung Griwna gemeint.
Der Quotenhit kommt ins deutsche Fernsehen
Die Serie wird ein Quotenhit, in der Ukraine und in Russland. Aktuell ist sie mit Untertiteln bei arte zu sehen. Wirklichkeit und Fiktion beginnen sich zu vermischen. „Diener des Volkes“ wird zur politischen Partei, der Schauspieler Selenskyj, der schon als Jurastudent lieber im Theater aufgetreten war, als Bücher mit Paragrafen zu wälzen, wird ihr Kandidat. Ein Unterschied zwischen der realen und der erdachten Welt: Im Fernsehen finanzieren Kleinspenden den Weg an die Spitze, im echten Leben ist es ein Oligarch. Ihor Kolomojskyi, Besitzer eines wichtigen Fernsehsenders. Die Gemeinsamkeit mit der Realität: Selenskyj wird Präsident.
Als Wolodymyr Selenskyj seine Antrittsrede bei den Vereinten Nationen hält, da spricht er prophetische Worte, doch die werden kaum registriert. „Es gibt keinen Krieg der anderen“, mahnt er die Vertreter der Weltgemeinschaft. „Wenn es in der Ukraine Krieg gibt, ist niemand mehr sicher.“ Kurz zuvor war ein Telefonat des damaligen US-Präsidenten mit Selenskyj bekannt geworden, in dem Trump ultimativ Ermittlungen gegen den Sohn von Joe Biden forderte. Dieses Thema beherrschte die Medien.
Massive Kritik des Europarates
Zu Hause hat Wolodymyr Selenskyj andere Probleme. Sein Finanzier aus dem Wahlkampf erhoffte sich, eine verstaatlichte Bank zurückzubekommen. Der Internationale Währungsfonds droht für diesen Fall, Milliarden einzufrieren. Die Welt schaut auf Selenskyj, er muss seinem Gönner den Gefallen verweigern. Der Kampf um das Bankengesetz hinterlässt Spuren, es sind nicht die einzigen.
Wolodymyr Selenskyjs Versuch, das Verfassungsgericht per Gesetz zu entmachten, trägt ihm massive Kritik des Europarates ein. Als er mehrere russischsprachige Fernsehsender per Dekret verbietet, schäumt nicht nur Moskau. Bei Kommunalwahlen gab es für die Partei „Diener des Volkes“ ein Fiasko, der Präsident schien auf einem absteigenden Ast. Dann eskalierte Russland die Lage.
Teile der Familie sterben im Holocaust
Westliche Geheimdienste gehen davon aus, dass Putin Spezialkommandos darauf angesetzt hat, Selenskyj zu töten. Den Mann, den der Kreml als Nazi beschimpft. Den Mann, der Teile seiner jüdischen Familie im Holocaust verloren hat. Der russische Botschafter in Berlin hat unlängst gegenüber dem Internetportal Euractiv erklärt, Selenskyj werde vor ein Tribunal gestellt. Es ist der gleiche Botschafter, der dieser Zeitung kurz vor der Invasion erklärt hat, dass Russland keine Offensive in der Ukraine plane.
Trotzdem: Daran, Kiew zu verlassen, denkt Wolodymyr Selenskyj nicht. Die Antwort auf ein entsprechendes US-Angebot: Er brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit. Selenskyj war für viele ein Clown, ein Komiker. Nun ist er für die halbe Welt ein Monument des Durchhaltewillens. „Wir werden so lange kämpfen, bis das Land befreit ist“, sagt er seinen Landsleuten. Seine Rede an das russische Volk ist ein emotionsgeladener Aufruf für Frieden, mit Potenzial für die Geschichtsbücher. Das EU-Parlament bittet er: „Beweisen Sie, dass Sie an unserer Seite sind!“ Der Welt sagt er: „Wenn wir heute schweigen, sind wir morgen verschwunden.“ Weit über die Ukraine hinaus hoffen viele Menschen, dass der ukrainische Präsident lange nicht schweigen wird.