Wohnraum ist in der City als auch in den Bezirken gefragt wie nie. Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Die Landeshauptstadt geht neue Wege der Wohnungsvermittlung. Man will Wohnsitzlose ohne jede Vorbedingung in privatem Wohnraum unterbringen. Erst danach soll die Sozialarbeit greifen.

Was steht an erster Stelle: das Wohnen oder die sozialarbeiterische Betreuung? Stuttgart will Obdachlosen künftig zuerst und ohne Vorbedingungen eine eigene Wohnung geben und startet dazu das Modellprojekt Housing First. Wie in vielen anderen Städten bereits praktiziert, wird das Dach überm Kopf zum Fundament der weiteren sozialen Arbeit. Diese Woche hat Sozialbürgermeisterin Alexandra Sußmann das Projekt und die Akteure vorgestellt.

Manche Leute scheitern am System

„Wir haben mehr als 5300 Menschen in Stuttgart, die keine eigene Wohnung haben“, sagt die Sozialbürgermeisterin. Nicht alle leben auf der Straße. „Viele wohnen in Wohnheimen, Übergangswohnungen, Sozialhotels. Dieses System wollen wir um das Housing First ergänzen.“ Die Federführung hat der Bereich Armut, Wohnungsnot, Schulden beim Caritasverband Stuttgart, beteiligt sind als Partner die Ambulante Hilfe, die Evangelische Gesellschaft und die Sozialberatung Stuttgart.

Ein Umdenken halten alle Träger für angebracht. „Wir haben bisher starr an unserer Hilfekette festgehalten, doch am Schluss konnten wir trotzdem nicht alle Menschen aus unseren Einrichtungen in privatem Wohnraum unterbringen“, begründet Harald Wohlmann, Bereichsleiter bei Caritas, den Vorstoß. Manche Menschen könne man sozialarbeiterisch gar nicht erreichen.

Abwärtsspirale vermeiden

Wie im Fall von Joachim S. Der Jurist ist Angestellter in einer Personalabteilung. Ihm werden Eloquenz und ein angenehmer Umgang bescheinigt. Mit 45 Jahren entwickelt er starke Depressionen und verliert seinen Job. Heute ist Joachim S. Mitte 50 und lebt von Erspartem und Erbetteltem. „Joachim S. wollte den Hilfeplan nicht unterschreiben“, sagt Wohlmann, „er fühlte sich von der Gesellschaft ausgespuckt.“ Doch nach dem bisherigen System gibt es ohne Hilfeplan und Zielvereinbarung keine Unterstützung bei der Wohnungssuche. Mit dem Leben auf der Straße beginnt ein Teufelskreis: keine Wohnung, keine Arbeit, kein Bankkonto – und aus dem System der Notübernachtung gibt es kaum ein Entrinnen. „Der Mann wäre gut geeignet für das Projekt Housing First“, sagt der Bereichsleiter der Caritas.

Ein Büro für Mieter und Vermieter

Seit dem Frühsommer ist Ina Thaidigsmann Projektleiterin für Housing First in der Urbanstraße 53. Dorthin werden Interessenten verwiesen, „in der Regel von Trägern, Fachberatungsstellen oder Streetworkern“, sagt die Projektleiterin. Vier Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie vier Wohnhelfer sind für Vermieter wie Klienten zuständig. „Mit den Wohnungsinteressenten führen wir zwei Aufnahmegespräche, dann suchen wir eine passende Wohnung, begleiten die Wohnungsbesichtigung, klären Umzugsfragen und sind Ansprechpartner für die Vermieter.“ Ist die Wohnsituation geklärt, bieten die Träger ihre sozialarbeiterische Hilfe weiterhin an. Für Vermieter bleibt Housing First ebenfalls Ansprechpartner.

Der Stuttgarter Gemeinderat hat 1,8 Millionen Euro für die Büro- und Personalkosten in der vierjährigen Modellphase zur Verfügung gestellt und setzt nun große Hoffnungen auf die Bereitschaft der Stuttgarter Haus- und Grundbesitzer. „Die Miete ist gesichert, weil wir uns mit der Mietobergrenze an dem orientieren, was von den Leistungsträgern auch übernommen wird“, sagt Sozialbürgermeisterin Alexandra Sußmann. Man kalkuliert mit 525 Euro Kaltmiete als Obergrenze für 45 Quadratmeter pro Kopf. „Es ist nicht einfach, solche Wohnungen zu bekommen, aber es gibt sie“, sagt Ina Thaidigsmann.

Aufruf zur Solidaraktion

Anders als bei den so genannten Garantiemietverträgen, wofür man nur wenige private Vermieter begeistern konnte, müssten sich beim Housing First die Vermieter nicht auf Zehn-Jahres-Mietverträge festlegen, sondern lediglich auf unbefristete Verträge. Zwei Interessenten stehen schon in Kontakt mit Housing First, nur steht bisher keine einzige Wohnung zur Verfügung. „Unser Appell richtet sich an private und gewerbliche Vermieter und Wohnbauträger, “, sagt Alexandra Sußmann. Man hofft aber auch auf die Unterstützung der Banken und Kirchen.

Seit 2019 befassen sich Verwaltung, politische Gremien und Träger mit dem Projekt, das von den Grünen vorgeschlagen worden und im Gemeinderat mit großer Mehrheit befürwortet worden ist. Nun hängt es vom Wohnungsangebot ab, ob und wann Housing First sein Ziel erreicht, 50 bedürftige Menschen mit privatem Wohnraum zu versorgen. Unterstützt wird das Modellprojekt von der Vector Stiftung mit einem Zuschuss in Höhe von 150 000 Euro. „Dass der Ansatz wirksam ist, ist bewiesen“, sagt Edith Wolf, die Vorständin der Vector Stiftung. „Aber es ist auch klar: kein Housing First ohne Housing.“ Sie wünsche sich deshalb, die beteiligten Träger und die Stadt würden eine bestimmte Quote ihrer Wohnungen zur Verfügung stellen.

Keine Hilfe vom Land

Die Landesregierung Baden-Württemberg sieht im Housing First „kein Programm, das unterstützenswert wäre“, sagt der FDP-Abgeordnete Niko Reith. Sein Antrag auf sachliche und argumentative Hilfe für Kommunen und Landkreise ist im Sozialausschuss des Landtags abgelehnt worden. „Es fehlt vor allem die Überzeugung, dass Housing First trägt.“ Das Modellprojekt in Stuttgart werde er deshalb aufmerksam verfolgen.

Wohnungsnotfallhilfe auf neuen Wegen

Das Konzept
Die Idee für Housing First stammt aus den USA und hat sich seither in Mega-Städten wie New York, aber auch in skandinavischen Großstädten und in Berlin als Standard in der Wohnungslosenhilfe etabliert. Aus Erfahrungsberichten geht hervor, dass 75 bis 95 Prozent der Klienten ihre Wohnung über lange Phasen behalten haben.

Das Projekt
Housing First Stuttgart, Urbanstraße 53, ist nach Vereinbarung sowie montags, mittwochs und freitags von 9 bis 12 Uhr und am Donnerstag von 14 bis 16 Uhr erreichbar. Die E-Mail-Adresse lautet info@housing-first-stuttgart.de, die Website-Adresse lautet www.housing-first-stuttgart.de czi