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Aufstehen, Mund abputzen, weiter machen: Warum der Fußball eine wunderbare Schule fürs Leben ist.

Stuttgart - Nach der Panne gegen Mexiko tippte mir beim Tanken plötzlich Mustafa auf die Schulter: „Hey, grüß dich, lange nicht mehr gesehen. Was war das denn heute für ein Gegurke?“ Wir sprachen kurz über das Spiel, über dies und das, dann stieg er in seinen Wagen und im Anfahren wehten noch seine Worte zu mir rüber: „Die müssen das jetzt machen wie wir damals.“

Es ist lange her: Ich wurde kurz nach Saisonbeginn D-Jugendtrainer, weil ein anderer keine Zeit mehr hatte. Nun saß ich nach meinem ersten Spiel mit einer Horde Kindern in der Umkleidekabine. Einige weinten, andere waren wütend oder kauerten mit leerem Blick hinter dem Trikot, das sie auf den Boden gepfeffert hatten. Wir hatten 0:7 verloren – gegen den Tabellenletzten, nach einer Serie von Niederlagen in den Wochen zuvor. Sie sagten, dass sie keinen Bock mehr haben. Dass der Schiedsrichter doof ist und die anderen immer nur foul spielen. Und dass der Sven nie den Ball abgibt.

Niemals aufgeben

Fußball, erklärte ich, kann sehr gemein sein. „Aber es ist im Sport wie im richtigen Leben: Du darfst mal hinfallen. Die wahren Champions sind aber die, die sich den Mund abputzen und wieder aufstehen.“

Ich habe ihnen dann die Geschichte vom ersten deutschen WM-Titel 1954 erzählt, von Sepp Herberger, Fritz Walter und Helmut Rahn. Aber auch die vom verlorenen WM-Finale 1966 gegen England. Vom Wembleytor in der Verlängerung. Von Uwe Seeler, Hans Tilkowski und Helmut Haller. Sie waren tief enttäuscht, hatten aber die Niederlage akzeptiert, ohne sich zu beklagen. Und ich erzählte ihnen vom Jahrhundertspiel 1970 im WM-Halbfinale in Mexiko. Wieder verlor die deutsche Elf: diesmal gegen Italien, 3:4 nach Verlängerung. Die Spieler auf beiden Seiten hatten sich bis zur totalen Erschöpfung verausgabt. „Wer nie aufgibt,“, sagte ich, „erhält sich die Chance, irgendwann belohnt zu werden.“

Große Triumphe, bittere Niederlagen

Ich habe den Jungs die Wahl gelassen: Entweder wir machen bis zum Ende der Spielzeit so weiter wie bisher und versuchen trotzdem noch ein bisschen Spaß zu haben oder wir tun ab sofort alles, um besser zu werden. Für diesen Fall habe ich versprochen, dass wir noch in dieser Saison ein Spiel gewinnen werden – mindestens. Wir nannten uns von nun an die „Löwen“ und kämpften auch so. Wir schauten zusammen „Das Wunder von Bern“ und erlebten selbst, was man erreichen kann, wenn man fest an seine Ziele glaubt: Keiner schwänzte das Training, an Weihnachten schippten wir Schnee, um auf dem Bolzplatz noch ein bisschen kicken zu können. In den Osterferien trafen wir uns zum Trainingslager. Wir machten zusammen Ausflüge oder besuchten die Bücherei und jeder las aus seinem Lieblingsbuch. Ich erzählte ihnen vom einarmigen Robert Schlienz, von Pelé, Günter Netzer und Zinedine Zidane, von großen Triumphen und bitteren Niederlagen. Wir lernten Tricks und Finten, schossen mit Außenrist, Innenrist, Vollspann. Wir lernten den Raum eines Spielfelds aufzuteilen, Positionen zu besetzen und Dreiecke fürs Passspiel zu bilden. Und immer mal wieder zupfte mich Mustafa am Ärmel: „Trainer, ich will den Übersteiger können!“

Wir haben geübt, gespielt und aus unseren Fehlern gelernt. Gegen Ende der Saison war das Team auf Rang vier geklettert. Und als wir im letzten Heimspiel dem Meister noch ein 1:1 abtrotzten, schoss Mustafa unser Tor des Tages. Kaum zu glauben, aber wahr: nach einem Übersteiger. Er rannte auf mich zu und rief: „Trainer, Trainer, hast du gesehen?“ Dann weinte er vor Glück. Ich auch. Fußball ist eine wunderbare Schule fürs Leben. Und eine Niederlage gegen Mexiko noch lange nicht das Ende.