In der „Struwwelpeter“-Geschichte vom Zappelphilipp geht es um einen hyperaktiven Jungen, der am Tisch nicht still sitzen kann, mit dem Stuhl schaukelt und mitsamt Tischdecke nebst Mahlzeit auf den Boden plumpst. „Und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum“. Foto: Wikipedia commons/Der Zappelphilipp – Zeichnung von Heinrich Hoffmann 1844

Kiloschwere Sandwesten werden in rund 200 deutschen Schulen – etwa bei ADHS-Kindern – eingesetzt. Wir fragten Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, was er von dieser umstrittenen pädagogisch-therapeutischen Maßnahme hält.

Stuttgart/Berlin - Schüler können manchmal ganz schön nervig sein. Eine volle Unterrichtsstunde still zu sitzen, nicht zappeln und vom Stuhl fallen, dem Lehrer aufmerksam zu hören, nicht dazwischenquatschen, die Mitschüler nicht stören – das fällt heute vielen Grundschülern und Pennälern schwer.

Ungewöhnliche Pädagogik

In rund 200 Schulen in Deutschland tragen einige besonders agile und unruhige Schüler, die verhaltensauffällig sind und an einer Wahrnehmungsstörung – der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) – leiden, spezielle, mit Sand gefüllte Westen.

„Die Sandwesten sind bei den Kindern total beliebt, und es wird niemand gegen seinen Willen hineingezwängt“, erklärt die Lehrerin Gerhild de Wall von der Schule Grumbrechtstraße, einer Schwerpunktschule für Inklusion mit sonderpädagogischen Förderklassen in Hamburg-Harburg. „Die Westen für Grundschüler wiegen zwischen 1,2 und drei Kilo und für Fünft- und Sechstklässler bis zu fünf Kilo.“ Die Kosten von rund 150 Euro müssten die Eltern tragen.

„Kinder dürfen nicht auf einfachen Wege ruhig gestellt werden“

Wir fragten den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes (DL) Heinz-Peter Meidinger, der zugleich Oberstudiendirektor und Leiter des Robert-Koch-Gymnasiums im niederbayerischen Deggendorf ist, was er von Sandwesten und ihrem Einsatz in Schulen hält:

Herr Meidinger, die nordrhein-westfälische Schulministerin Yvonne Gebauer lehnt den Einsatz der 1,2 bis sechs Kilogramm schweren Sandwesten in Schulen kategorisch ab. Sind Sie als Direktor eines Gymnasiums und als Präsident des Deutschen Lehrerverbandes auch dieser Meinung?
Ich weiß nicht, welche Quellen die Ministerin für ihre Einschätzung genutzt hat, aber ich würde mir ein solches schnelles Pauschalurteil nicht erlauben. Ich glaube nach allen Infos und Berichten, die ich eingeholt habe, dass man das Thema sehr differenziert sehen muss.
Ist der Einsatz von Sandwesten in Schulen Ihrer Meinung nach sinnvoll?
Sandwesten werden vereinzelt an Grund- und Förderschulen eingesetzt. Es kann durchaus Situationen geben, wo solche Westen pädagogisch, psychotherapeutisch und medizinisch sinnvoll sein können. Was allerdings der Deutsche Lehrerverband ablehnt – und wovor ich eindringlich warne: Sandwesten dürfen nicht eingesetzt werden, um Kinder auf einfachem Wege ruhig zu stellen, etwa weil in den Schulen zu wenig Personal da ist oder weil Lehrkräfte sich überfordert fühlen.
Also keine pädagogischen Lückenbüßer?
Sie dürfen kein Ersatz sein für fehlende personelle und finanzielle Ressourcen. Das darf auf keinen Fall sein.
Unter welchen Bedingungen sollten diese therapeutischen Hilfsmittel in Schulen eingesetzt werden?
Ich setze ganz stark auf Freiwilligkeit und Konsenslösungen. Gegen den Willen des Kindes – und gegen den Willen der Eltern sowieso –, darf man Sandwesten nicht verwenden. Und auch nur nach Absprache mit Experten – Psychologen oder Medizinern. Ich habe von Fällen gehört, in denen Kinder selbst die beruhigende Wirkung von Sandwesten positiv erfahren, weil sie ihre Hyperaktivität und Nervosität dämpfen kann.
Bei einer kiloschweren Weste denkt man unwillkürlich an Zwang.
In der öffentlichen Diskussion taucht ganz schnell die Assoziation zur Zwangsjacke auf. Eine solche Gleichsetzung ist mit Sicherheit falsch. Sandwesten sind keine Relikte oder Wiedergänger einer schwarzen Pädagogik. Die Angst, dass dadurch repressive Erziehungsmethoden, und damit Gewalt und Einschüchterung als pädagogisches Mittel, wieder Einzug an unseren Schulen Einzug halten, ist nach meinem Kenntnisstand unbegründet.

Zur Person

1954 geboren in Regensburg
Studium der Fächer Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien
2003 Schulleiter am Robert-Koch-Gymnasium im niederbayerischen Deggendorf
2004-2017 Vorsitzender des deutschen Philologenverbandes (DPhV)
Seit 1. Juli 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL)