Nach dem Turm der Stiftskirche müssen sich alle richten Foto: Leif Piechowski

Er ist der Maßstab. Zum Westturm der Stiftskirche müssen alle anderen Bauten der Stadt aufblicken. Keiner darf im Talkessel über seine 61 Meter hinauswachsen.

Stuttgart - Er ist der Maßstab. Zum Westturm der Stiftskirche müssen alle anderen Bauten der Stadt aufblicken. Keiner darf im Talkessel über seine 61 Meter hinauswachsen. So zumindest war die Abrede, nachdem die Bürger anno 1905 kritisierten, dass die Stadtoberen mit ihrem 68 Meter hohen Rathausturm dem Herrgott näher kamen als der Mesner im Stiftskirchenturm. Nach dem Krieg baute man den in den Bombennächten zerstörten Rathausturm neu, jedoch nur mehr 60,5 Meter hoch. Dass deshalb womöglich bei den Ratsbeschlüssen der göttliche Funke fehlt, ist jedoch eine andere Geschichte.

Aber auch eine Himmelfahrt beginnt auf dem Boden. Allerdings an einer verschlossenen Pforte. Rechts neben dem Haupteingang ist der Zugang zu dem Turm, 1490 begannen die Stuttgarter, Stein um Stein zu stapeln, 1531 war er schließlich fertig. Weil die Anforderungen an den Brandschutz und die Sicherheit bei unseren Altvorderen nicht so hoch waren, bauten sie das Treppenhaus eng, den Rundgang in 55 Meter Höhe schmal und die Brüstung niedrig. So dass gewöhnliche Zeitgenossen den Turm nicht erklimmen dürfen – das Amt sorgt sich um Leib und Leben der Besteiger. Einige Male im Jahr immerhin macht man eine Ausnahme, dann dürfen Neugierige auf die Himmelsleiter. Damit sie sicher sind hat Mesner Markus Friedrich eine Mannschaft von 100 Ehrenamtlichen, die achtgeben, Historisches erläutern und Kehrwoche machen. Man ist ja schließlich in Stuttgart: Im Frühjahr putzen sie die Stufen.

Wie viele es sind, darüber lässt sich streiten. Zwischen 200 und 237 findet sich alles in der Literatur, 224 seien es, sagt Friedrich. Die Differenz kann nur den erstaunen, der noch nie die Treppen hinaufstieg. Außer Atem und nach Luft schnappend ist es schlicht unmöglich, korrekt zu zählen. Zudem biegt Markus Friedrich zweimal nach links ab. Beim ersten Abstecher befinden wir uns über der Orgel, hier hat man die Entrauchungsanlage eingebaut, die im Brandfall die giftigen Gase heraussaugen soll. Beim zweiten Abstecher blickt man nach oben aufs Kirchendach und nach unten auf den Aufbau über dem Kirchenschiff. Hier muss Friedrich des Öfteren nach dem Rechten sehen, lockern sich Ziegel, muss er umgehend die Dachdecker rufen, nach einem Unwetter musste vor Jahren gar die Feuerwehr anrücken, um lose Ziegel zu befestigen, auf dass sie nicht zu tödlichen Geschossen wurden.

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Türme in Stuttgart und Region

Überhaupt, hin und wieder braucht auch ein Gotteshaus Beistand von den Freunden und Helfern. In den 60er Jahren läuteten die Glocken Sturm, nachts um 3 Uhr. Übeltäter war ein Kurzschluss. Als der frühere Bischof Theo Sorg schließlich eintraf, war die Polizei schon da. Das kann heute nicht mehr passieren. In modernen Zeiten steuert Mesner Friedrich per Rechner die Glocken. Und die Technik hilft nicht nur gegen unpünktliches, sondern auch gegen unkontrolliertes Glockengeläut. Eine Zeitschaltuhr stoppt nach acht Minuten das Schwingen der Glocken.

Aus anderen Gründen schwieg vor Jahren die Guldenglocke. Das eiserne Joch ächzte unter der Last und riss, kein Wunder, wiegt die Guldenglocke doch mehr als fünf Tonnen. Ihren Namen verdankt sie der Tatsache, dass bei Begräbnissen für ihr Geläut ein Gulden gezahlt werden musste. Die Umschrift auf ihrer Haube verrät, dass der Biberacher Martin Kiesling sie aus dem Metall zersprungener Geschütze gegossen hat, die bei der Belagerung des Aspergs durch den Schwäbischen Bund zum Einsatz gekommen waren. Unter den heute insgesamt zehn Turmglocken der Stiftskirche ist sie zusammen mit der Salve-Glocke im Südturm die älteste schlagende Glocke.

Einige Holztreppen noch geht es hinauf, bis man schließlich in der ehemaligen Heimstatt der Türmer steht. Sie wohnten hier, blickten auf die Stadt hinab und warnten vor Feinden und Feuer. Heute kann man von dem schmalen Rundgang das Auge schweifen lassen, ohne auf Gefahren achten zu müssen. Man blickt auf die Dächer der Stadt, sieht von oben auf das Weindorf und die Stände des Wochenmarkts. Friedlich wirkt alles von hier oben, doch mitunter erreichen einen auch hier die Weltenläufe. Im Januar 1975 rollte ein Anhänger der Roten- Armee-Fraktion hier Transparente aus. Zu lesen war etwa: „Seit 109 Tagen Hungerstreik gegen das Vernichtungsprogramm“. Der Mann hatte sich als Kunststudent ausgegeben, der vom Turm aus angeblich die Stadt zeichnen wollte. Vom Mesner bekam der junge Mann den Schlüssel, brach ihn im Schloss ab und legte Stacheldraht auf der Treppe aus.

Solch rüden Umgang mit dem altehrwürdigen Turm hat man seither nicht mehr erlebt. Wer hier hochkommt, genießt die Aussicht oder erfreut die Mitmenschen. Wie die Stiftsbläser, die jeden Dienstag und Donnerstag die Stufen mit ihren Instrumenten emporsteigen, um um 8.45 Uhr zu musizieren. Pünktlich, wenn die Viertelstundenglocke schlägt – sie hängt mit ihrer Schwester, der Stundenglocke, ganz oben auf dem Turm, unter dem Wetterhahn in 61 Meter Höhe. Das Maß aller Dinge im Talkessel. Höher ist mittlerweile jedoch der Neubau der LBBW am Bahnhof mit gut 70 Metern. Doch die Bankenkrise lehrt: Wer hoch hinaus will, kann tief fallen.

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