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Gespräch mit dem Akrobaten Kim Song Sam aus Nordkorea im diesjährigen Weltweihnachtscircus.

Stuttgart - Luftakrobaten aus Nordkorea rauben dem Publikum im Weltweihnachtscircus Jahr für Jahr den Atem. Wer mit ihnen ins Gespräch kommt, hört selbstverständlich nichts Kritisches über ihre Heimat. Danach glaubt man zu ahnen, wie Nordkoreaner nach fast 60 Jahren Diktatur ticken, bleibt aber doch ratlos.

Nach Hause fahren oder in Stuttgart bleiben - Kim Song Sam hat mit sich gerungen. Nach einem Tag waren sich er und seine acht Kollegen einig: Wir machen weiter bis zum Ende des diesjährigen Weltweihnachtscircus am 8. Januar. Weiterzumachen sei "eine moralische Verpflichtung" gewesen, "er liebte die Artisten, er war wie ein Vater für uns". So übersetzt Ri Gin Hoyk, der Betreuer der Trapezartistentruppe aus Nordkorea, was Kim Song Sam über den 19. Dezember berichtet. Mit er ist Kim Jong Il gemeint.

Am 19. Dezember wird offiziell bekannt, dass das Staatsoberhaupt Nordkoreas zwei Tage zuvor verstorben ist. An jenem Montag steigen die nordkoreanischen Artisten nicht aufs Trapez, die kräftigen Männer des Ensembles werfen ihre zierlichen Kolleginnen nicht wie Bälle durchs Zirkuszelt, Kim Song Sam vollführt keinen vierfachen Salto wie sonst. Sie haben sich einen Tag Auszeit genommen, doch am Dienstag vor Weihnachten fliegen sie wieder durch die Manege auf dem Cannstatter Wasen. Nicht auszuschließen, dass man an höherer Stelle an der Entscheidung beteiligt war.

Artisten dürfen reisen

Die Artisten vom nordkoreanischen Staatszirkus zählen zu den wenigen Menschen, die aus dem Land in Fernost ausreisen dürfen. Ihre Fähigkeiten machen sie zu Privilegierten in einem gegenüber der restlichen Welt abgeschotteten Staat. Wie nähert man sich zwei von ihnen unvoreingenommen, fragt nach den Landsleuten, dem Land, ohne unhöflich zu wirken?

Der Beste der Truppe, Kim Song Sam, und Betreuer und Dolmetscher Ri Gin Hoyk schlendern durchs Foyer des Weltweihnachtscircus, unbeachtet von den ersten Besuchern der 11-Uhr-Vorstellung am Donnerstag. Die Begrüßung vor dem Gespräch fällt freundlich, fast herzlich aus. Sympathisch, alle beide. Bei einer Tasse Kaffee plaudert Kim Song Sam darüber, dass er bereits 1999 auf dem Cannstatter Wasen aufgetreten sei - damals noch nicht als Star der Truppe, dass sie gelegentlich in der Stuttgarter City einkaufen seien, und darüber, wie Zirkus in Nordkorea funktioniert.

Kim Jong Il liebte exzellente Artisten

"Exzellente Artisten" seien dem verstorbenen Staatschef stets eine Herzensangelegenheit gewesen, übersetzt Betreuer Ri Gin Hoyk. Es gebe zwei Wege, in der staatlichen Zirkusschule aufgenommen zu werden, sagt Kim Song Sam. Entweder man stellt sich vor, oder man wird von Talentspähern entdeckt, die sich in den normalen Schulen umschauen. Gut strukturiertes Auswahlverfahren, könnte man konstatieren. Oder doch unmenschliche Auslese zum Zweck der staatlichen Imagepflege, wie einst im Ostblock praktiziert? Sprechen wirklich junge Nachwuchsartisten in der Zirkusschule vor, oder werden die Kinder eher von verarmten Eltern dorthin geschickt, in der Hoffnung auf ein besseres Leben? Nach dem wenigen, das aus dem heutigen Nordkorea bekannt ist, ahnt man, dass Kim Song Sams Sätze wenigstens Raum für Interpretationen lassen.

Zirkusfreunde verdanken es einem Mann, dass nordkoreanische Luftakrobaten in Europa auftreten dürfen. Henk van der Meyden organisiert seit 19 Jahren den Stuttgarter Weltweihnachtscircus - mit den fliegenden Menschen als Stammpersonal, die in ihrer Heimat Heldenstatus genießen. Seit über 25 Jahren arbeitet van der Meyden mit dem Staatszirkus Nordkoreas zusammen respektive mit den verantwortlichen Machthabern. Der Zirkus spielt immer in einer festen, stets voll besetzten Halle in der Hauptstadt Pjöngjang. Die erste Tournee des kompletten Staatszirkus außerhalb der Landesgrenzen im Jahr 2008 galt daher in der Branche als Sensation. Dies sowie die ersten Gastspiele des Bolschoi-Balletts oder auch des chinesischen Nationalzirkus im Westen, die er ermöglicht hatte, trugen Henk van der Meyden einst den Vorwurf ein, er paktiere mit Kommunisten. Durch den Kulturaustausch würden sich Regime öffnen, entgegnete van der Meyden seinen Kritikern dann. Mehrfach hat er seinen ganz persönlichen Traum formuliert: ein Gastspiel des Staatszirkus aus Pjöngjang vor dem Weißen Haus in Washington, mit US-Präsident Barack Obama als Schirmherr.

Der Übersetzer antwortet auch eigenmächtig

Ohne Henk van der Meyden hätte auch die Unterhaltung mit Kim Song Sam vermutlich nicht stattgefunden. Ein Gespräch, das immer wieder zwiespältige Gefühle aufkommen lässt. Alle in der Truppe seien "schrecklich traurig" über den Tod ihres obersten Führers. Wie er den verstorbenen Machthaber Kim Jong Il - nicht ohne Pathos - zum fast gottgleichen Übervater erhebt, wirkt beim ersten Hinhören authentisch, beim zweiten befremdlich für Menschen, die nach westlich-demokratischem Werteverständnis groß geworden sind.

Dann erzählt Kim Song Sam wieder mit einem Lächeln, dass er mit 24 Jahren als Artist begonnen habe und dass dies nicht unbedingt dem üblichen Werdegang eines nordkoreanischen Akrobaten entspreche. Nippt am Kaffee, kneift die Augen zusammen und berichtet verschmitzt, dass er anfangs durchaus Bammel vor den waghalsigen Sprüngen gehabt habe. Aus ihm ist einer der weltbesten Trapezkünstler geworden, der in Monte Carlo mit dem Oscar der Zirkuswelt, dem Goldenen Clown, geehrt wurde.

Und dann antwortet der Betreuer schließlich, ohne eine Frage zuvor übersetzt zu haben. Beim negativen Bild, das die Welt von Nordkorea habe, "fühle er sich nicht gut", sagt Ri Gin Hoyk und bemüht dabei nochmals den Begriff des Vaters, der Kim Jong Il doch für alle gewesen sei.

Das Gespräch neigt sich dem Ende entgegen. Nicht nur weil Kim Song Sam zum Aufwärmen zu seinen Kollegen muss, schwant einem. Gut zwei Stunden später wird er wieder waghalsige Salti vollführen. Viel Glück - Dolmetscher Ri Gin Hoyk schreibt zum Abschied lächelnd die Worte in koreanischen Schriftzeichen in den Notizblock.