„Wir haben auf engstem Raum alles, was wir brauchen“, sagt eine Bewohnerin in der Weißenhofsiedlung. Foto: Achim Zweygarth

Beim Blauen Montag gibt es Kaffee, Kuchen und einen Vortrag über die Architektur des Nordens.

S-Nord - Jan Lubitz projiziert das Abbild einer Postkarte auf die weiße Wand. Es zeigt ein Haus der Weißenhofsiedlung, ein ursprünglich schwarz-weißes Bild, das nachträglich koloriert wurde. „Am Ende meiner Präsentation wird die Postkarte noch einmal auftauchen“, sagt Lubitz. „Dann wissen sie, es ist bald vorbei.“ Er entschuldigt sich, weil er befürchtet, die Gäste an diesem Montagnachmittag zu langweilen. Alle Anwesenden wohnen im Stuttgarter Norden, es gibt wahrscheinlich kaum etwas, das sie nicht über die Weißenhofsiedlung wissen, über die der Architekturhistoriker der Universität Stuttgart sprechen will. Deshalb, so sagt Lubitz zu Beginn, wolle er nicht die Siedlung an sich erläutern, sondern das Umfeld: den zeitlichen Kontext, wie der Bau beeinflusst ist und zu welchen Entwicklungen er beigetragen hat.

Der Vortrag findet im Gemeindehaus der Erlöserkirche statt im Rahmen der Veranstaltungsreihe Blauer Montag, die vor mehr als zwanzig Jahren ins Leben gerufen wurde. „Damals haben wir gemerkt, dass etwas Anspruchsvolles für die ältere Generation fehlte“, sagt Lisbeth Götz, eines der Gründungsmitglieder. Man wollte keinen einfachen Kaffeeklatsch, sondern anspruchsvolle Unterhaltung, Bildung und kontroverse Diskussionen. Einmal im Monat werden seither Referenten eingeladen aus Bereichen wie Kultur, Politik und Geschichte. Ein bisschen Kaffeeklatsch ist trotzdem dabei. Etwa eine dreiviertel Stunde lang wird Kaffee getrunken, Kuchen gegessen und getratscht. „Es ist ein richtiger Treffpunkt im Bezirk geworden“, sagt Lisbeth Götz.

Ästhetik und Hygiene

Tatsächlich schafft es Jan Lubitz an diesem Nachmittag, den Zuhörern in Worten und Bildern den Geist näher zu bringen, der bei Entstehung der Weißenhofsiedlung herrschte, und nebenbei in die Architekturhistorie und ihre Strömungen einzuordnen. Er zeigt ein Foto von einem typischen Herrenzimmer des 19. Jahrhunderts – massive Möbel, dunkle Atmosphäre und „vollgestopft mit allem, was man für gemütlich hält“, sagt Lubitz. Die Weißenhofsiedlung, das Demonstrationsobjekt des Neuen Bauens, war eine Revolte gegen ein solches Wohnen. Ästhetik und Hygiene nennt Jan Lubitz die beiden Schwerpunkte, nach denen die Siedlung entworfen und gebaut wurde. Das Wohnen sollte auf das Wesentliche reduziert werden. Doch die Architekten wollten nicht nur eine neue Wohnästhetik schaffen, sondern gleichzeitig ein Fanal gegen die schlechten hygienischen Zustände in vielen Städten setzen. Jan Lubitz zeigt dafür Beispiele, Fotos vom Hamburger Gängeviertel, von einer Mietskasernenanlage in Berlin und von ersten Gegenbewegungen wie die Idee der Gartenstadt, die in England geboren und auch in der Nähe von Dresden um 1900 realisiert wurde. Viele Aspekte dieser Ideen eines alternativen Städtebaus sind in die Entwicklung der Weißenhofsiedlung eingeflossen.

Jan Lubitz schlägt am Ende seines Vortrags eine Brücke zur heutigen Bauweise und Art des Wohnens: „Vieles, was wir heute haben, ist ein Resultat der zwanziger und dreißiger Jahre. Einbauküchen und Ikea-Möbel sind aus diesem Geist entstanden.“ Ob man in der Reduziertheit der Wohnungen am Killesberg leben könne? Einige der Gäste des Blauen Montag wohnen in der Weißenhofsiedlung. „Dort lebt es sich sehr gut“, sagt eine Dame. „Wir haben auf engstem Raum alles was wir brauchen.“ Strömungen wie die des Neuen Bauens gebe es heute nicht mehr, sagt Lubitz. Heute entstünden die Stile parallel nebeneinander. Vielmehr spiegle sich in jedem Bauwerk der Charakter des Architekten wider.