Ministerpräsident Mario Draghi will bei Tausenden Bezahlstränden für mehr Konkurrenz sorgen. Wird da ein Stück Italien an internationale Investoren verhökert?
Rom - Kein italienischer Regierungschef hat es bisher gewagt, den heiligen Strandfrieden zu stören. Romano Prodi, Silvio Berlusconi, Mario Monti, Enrico Letta, Matteo Renzi, Paolo Gentiloni, Giuseppe Conte: Alle wussten, dass bei den „stabilimenti balneari“, den beliebten Bezahlstränden, eine politische Zeitbombe tickt. Mario Draghi will sie nun tatsächlich entschärfen.
Hintergrund ist die Bolkestein-Direktive, die die EU schon im Jahr 2006 erlassen hat und mit der die öffentlichen Dienstleistungen liberalisiert und für private Anbieter geöffnet werden. Für die italienischen Lidos bedeutet sie: Die staatlichen Konzessionen für die rund 30 000 Strandabschnitte, die während der Badesaison 300 000 Menschen beschäftigen, pro Jahr rund 15 Milliarden Euro Umsatz verbuchen und somit wichtiger Teil der touristischen Infrastruktur sind, müssten in regelmäßigen Abständen neu ausgeschrieben werden, weil es sich bei den Stränden um öffentlichen Grund handelt.
Rom macht das Gegenteil von dem, was Brüssel will
Doch weil Betreiber, Mitarbeiter und Gäste auch ein beträchtliches Wählerpotenzial darstellen, hat Rom bisher das genaue Gegenteil dessen getan, was Brüssel vorschreibt: Seit Inkrafttreten der Bolkestein-Direktive wurden alle Konzessionen stillschweigend und ohne Ausschreibung verlängert, zuletzt unter der Regierung von Giuseppe Conte im Jahr 2018 sogar gleich bis Ende 2033, also um 15 Jahre.
Unter Draghi ist nun Schluss mit lustig. Die Regierung hat ein neues Gesetz beschlossen, das die Dauer der aktuellen Konzessionen auf Ende 2023 beschränkt. Wer sein Strandbad über diese Deadline hinaus weiter betreiben will, muss sich um eine neue Bewilligung bewerben und sich dabei gegen andere Interessenten durchsetzen.
Auch der Umweltschutz soll bewertet werden
Dabei werden die vorgesehenen Dienstleistungen für die Kunden, das Preis-Leistungsverhältnis, aber auch mögliche Beeinträchtigungen der Natur bewertet. Im Rahmen der Neuausschreibungen soll auch dafür gesorgt werden, dass nicht immer mehr freie Strände durch Lidos belegt werden. Schon heute sind über 50 Prozent der 7500 Kilometer langen italienischen Küstenlinie von „stabilimenti“ besetzt. In Frankreich besteht diesbezüglich eine gesetzliche Obergrenze von 20 Prozent.
Der Regierungsplan hat unter den Betreibern der Bezahlstrände große Verunsicherung ausgelöst – denn die öffentliche Ausschreibung der Strandkonzessionen könnte leicht zur Folge haben, dass ein Lido-Betreiber seinen Platz für einen anderen Mitbieter räumen muss – möglicherweise für einen großen ausländischen Tour-Operator oder einen Finanzinvestor. Für Roberto Santini, Betreiber eines beliebten Lidos im toskanischen Badeort Forte dei Marmi, käme das schlicht einer „Enteignung“ gleich. „Fast alle von uns sind kleine Unternehmer, die ihr ,stabilimento’ mit viel Leidenschaft und großem finanziellen Einsatz in Schuss halten. Wir sollten von der Regierung dafür belohnt und nicht bestraft werden“, betont Santini.
Laufsteg, Lesesaal und Liebesnest in einem
Bestraft werden auch die Gäste: Angesichts der Unsicherheit, ob man im Jahr 2024 noch eine Konzession haben wird, dürften viele Betreiber erst einmal auf Investitionen und Unterhalt verzichten, warnt Marzia Marzoli, die am Strand der Etrusker-Stadt Tarquinia ein „stabilimento“ betreibt. Auch die Banken hätten bereits die Kredite gesperrt. „Somit werden die Gäste im Vergleich zum Vorjahr die gleichen oder schlechtere Dienstleistungen erhalten.“
Auch bei den Nutzern sind die „stabilimenti“ ein hochemotionales Thema in Italien. Die kostenpflichtigen Badeanstalten sind der Inbegriff der italienischen Strandkultur: Im „stabilimento“ verbringen die meisten Italiener schon als Kinder und Jugendliche die Sommer; als Erwachsene treffen sie dort ihre alten Freunde und Bekannten vom letzten Urlaub wieder; der Strand ist Treffpunkt, Laufsteg, Fitness-Studio, Markt, Sauna, Lesesaal, Meditationsraum und Liebesnest in einem. Mit anderen Worten: Das „stabilimento“ ist Heimat, Identität, „Italianità“. Und außerdem steht mit Duschen, Umkleidekabinen sowie einem Restaurant oder zumindest einer kleinen Strandbar alles zur Verfügung, was das Strandleben erst richtig lebenswert machen.
Geht ein Stück Italien verloren?
In Zeiten, in denen der nationale Autobauer Fiat gerade im französischen Stellantis-Konzern aufgegangen ist und die gute alte Alitalia unter dem neuen, einfallslosen Namen ITA einen ausländischen Käufer sucht, ist den meisten Italienern der Gedanke, dass ihr Lido, dem sie von Kindesbeinen an die Treue halten, ab 2024 von einem chinesischen Investor geführt werden könnte, beängstigend und absurd. Ob allerdings das Parlament den Mut hat, das vorgelegte Gesetz abzusegnen, bleibt abzuwarten. Lega-Chef Matteo Salvini hat bereits vielsagend angekündigt, dass man die Vorlage noch werde „verbessern“ müssen. In diesem Fall dürfte das wohl heißen: verwässern.