Stuttgart 21 zum Hundersten: Finanzminister Nils Schmid (links) und der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Foto: dpa

Der Landtag streitet darüber, ob die Bürger den Wortlaut der Volksabstimmung verstehen.

Stuttgart - Dass die Volksabstimmung zu S 21 kompliziert ist, räumen selbst grüne und rote Abgeordnete ein. Doch spannender als das Referendum selbst ist die Frage, wie sich Regierung und Opposition verhalten, wenn das Ergebnis feststeht.

Wenn Politiker Volkes Stimme zitieren wollen, beziehen sie sich gern auf den Taxifahrer, der sie morgens zum Parlament gefahren hat. Die CDU-Abgeordnete Nicole Razavi hat jetzt aber eine neue Quelle aufgetan, aus der sie die öffentliche Meinung saugt: Sie war kürzlich in einer Bahnhofswirtschaft, genauer gesagt im Bahnhof von Bempflingen.

Dort will sie nicht nur erfahren haben, dass die Menschen für Stuttgart 21 sind, sondern auch "stinksauer" auf Grün-Rot, weil die den Stimmzettel zur Volksabstimmung so kompliziert machen. Für Razavi steckt dahinter Methode, "absichtliches Täuschen" des Wahlvolks, so ihr Vorwurf.

Versteht's der Bürger oder versteht er's nicht? Diese Frage trieb am Donnerstag den Landtag derart um, dass selbst Ministerpräsident Winfried Kretschmann nach fünfmonatiger Abstinenz wieder in die Bütt stieg. Man möge doch jetzt nicht mehr am Verfahren herumkritteln, sondern über "die Sache" streiten, bat er.

Doch die Opposition dachte gar nicht daran und ließ sich die Abstimmungsfrage auf der Zunge zergehen: "Stimmen Sie der Gesetzesvorlage ,Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21 (S-21-Kündigungsgesetz)' zu?" Die grün-roten Kollegen könnten doch nicht bestreiten, dass viele Bürger klagten: "Wir verstehen's nicht", wiederholte FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke.

Dass die Formel von den Grünen absichtlich so verquast ersonnen wurde, wie die Opposition unterstellt, nannte Innenminister Reinhold Gall (SPD) albern. Es sei doch bei Bürgerentscheiden häufig so, dass ablehnende Gemeinderatsbeschlüsse mit Ja oder Nein bewertet werden müssten. "Da Sie für Stuttgart 21 sind, müssen Sie am Wahltag Nein ankreuzen", gab er der CDU Nachhilfe - unter dem Gelächter von Grün-Rot.

Als Razavi schließlich einwandte: "Wir Abgeordnete kapieren das ja, aber der Bürger...", sah sich Uli Sckerl (Grüne) zu einer geharnischten Verteidigungsrede auf die Volksintelligenz genötigt. Die Baden-Württemberger seien kluge Köpfe, befand er. Außerdem sei das eine "einfache Fragestellung", bei der sich die Regierung große Mühe gegeben habe.

Die Regierung sei verpflichtet, das Bahnhofsprojekt zu fördern.

Sein SPD-Kollege Sascha Binder räumte zwar ein: "Es gibt einfachere Fragen im Leben", wies aber darauf hin, dass das Referendum keine Meinungsumfrage über S21 sei, sondern das Votum zu einem Gesetz. Im Übrigen, so Binder, habe er keine Sorge, dass der Bürger die Sache verstehe.

So hat im Landtag eben jeder seine eigene Meinung über Volkes Intelligenz. Schließlich trifft man den gemeinen Bürger "hin und wieder auch außerhalb von Bahnhofsgaststätten", wie ein Abgeordneter süffisant anmerkte. Der frühere FDP-Justizminister Ulrich Goll mutmaßte gar, die komplizierte Formulierung könnte auch den S-21-Befürwortern nützen: "Jeder, der's nicht blickt, wird reflexartig mit Nein stimmen." Was ihm wiederum den Protest der Regierungsfraktionen eintrug.

So ging das hin und her - bis Ex-Ministerin Tanja Gönner (CDU) dem Ministerpräsidenten die Gretchenfrage stellte und damit die Stimmung anheizte: Was mache Kretschmann, wollte sie wissen, wenn die Mehrheit das Kündigungsgesetz befürwortet, das Quorum aber verfehlt? "Ich habe mehrfach erklärt, wir machen Politik auf der Basis der Verfassung", antwortete der Regierungschef genervt, "auch wenn wir uns ein anderes Quorum gewünscht hätten."

FDP-Mann Andreas Glück setzte nach: "Für den Fall, dass bei der Volksabstimmung eine Mehrheit für den Ausstieg ist, aber das Quorum scheitert, unterstützen Sie Stuttgart 21 dann?" Doch diese Antwort blieb Kretschmann schuldig: "Wenn das so ist, ist das Kündigungsgesetz gescheitert", sagte er und ging auf seinen Platz zurück.

CDU-Fraktionschef Peter Hauk erinnerte Kretschmann daran, dass die Regierung verpflichtet sei, das Bahnhofsprojekt zu fördern. Doch plötzlich wurde auch Hauk mit einer Gretchenfrage konfrontiert: "Würde die CDU bei einer Mehrheit gegen Stuttgart 21 rechtliche Schritte unternehmen?", wollte der Grüne Siegfried Lehmann wissen. An dieser Stelle wand sich wiederum Hauk - während Rülke souverän versicherte: "Die FDP wird nicht gegen das Gesetz klagen, egal wie die Volksabstimmung ausgeht." Aber die Bahn werde das tun.

Wenn ein Gericht aber befinde, dass das Ausstiegsgesetz verfassungswidrig sei, "dann erwarten wir von Ihnen, dass Sie mit einem Urteil genauso umgehen, wie Sie es von Landtagspräsident Willi Stächele verlangt haben", donnerte Rülke. Schließlich musste Stächele gehen, weil der Staatsgerichtshof ihm Verfassungsbruch beim Kauf der EnBW-Aktien bescheinigt hatte.