Karin Longus (rechts) und Manfred Stock helfen bei der Geschirrrückgabe. Foto: Marta Popowska

Viel mehr als ein warmes Mittagessen: In der Vesperkirche am Leonhardsplatz engagieren sich rund 800 Menschen ehrenamtlich. Mittlerweile sind es so viele, dass die Kirche schauen muss, dass jeder auch mal drankommt.

Gegen 11 Uhr ist in der Vesperkirche am Leonhardsplatz noch nicht viel los. Einige Gäste sitzen gemütlich beim Kaffee, andere nutzen die Zeit bis zum Mittagessen für einen kostenlosen Haarschnitt. Etwas versteckt hinter einem Paravent, rechts neben der Kanzel, befindet sich der kleine improvisierte Salon von Petra Hustedt. Montags, wenn ihr eigenes Geschäft zuhat, engagiert sie sich als eine von Hunderten Ehrenamtlichen in der Vesperkirche.

 

„Gefällt es Ihnen?“, fragt Hustedt. Die Frau vor ihr auf dem Stuhl nickt. Ihre frisch durchgestuften Haare samt neuem Pony umschmeicheln ihr lächelndes Gesicht. Darüber freut sich auch Petra Hustedt. „Gut aussehen hat auch etwas mit Menschenwürde zu tun“, sagt die Friseurin.

Petra Hustedt kommt montags vorbei. Foto: Marta Popowska

Ein Sozialprojekt ist Pflicht

Dieses Jahr findet die Vesperkirche, die älteste Deutschlands, zum 30. Mal statt. Mit der Zahl der Bedürftigen stieg laut der Pfarrerin Gabriele Ehrmann in den vergangenen Jahren auch die Zahl der Menschen, die sich engagieren möchten. „Die Leute machen das gern, vielen geht es gut“, sagt die Pfarrerin. Rund 800 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer sind mittlerweile für die Vesperkirche in Stuttgart im Einsatz. Das seien so viele, dass man schauen müsse, dass jede und jeder auch eine Schicht bekomme, sagt Ehrmann.

Apropos Schicht: Die Helfenden haben unterschiedliche Hintergründe, und man sieht fast alle Altersklassen. Auch Schülerinnen und Auszubildende engagieren sich. „Bei manchen ist das Teil der Ausbildung“, sagt Ehrmann. Etwa bei Mercedes-Benz, wo ein Sozialprojekt Pflicht ist. Ein paar junge Männer schmieren daher am Vormittag Brote für die Vespertüten. Sie sind im zweiten Lehrjahr in Sindelfingen und kannten die Stuttgarter Vesperkirche zuvor nicht. „Es ist ungewohnt. Ich habe noch nie so viele obdachlose Menschen gesehen und auch nicht gewusst, dass es so viele in Stuttgart gibt“, sagt Luca Oberländer. Es mache traurig, dass manche ältere Menschen nach einem langen Arbeitsleben auf das Angebot angewiesen seien, stimmt sein Kollege Sohaib Almassri ein. Ein wenig Angst mache es ihnen, wozu Rückschläge im Leben führen können.

Bei der Geschirrrückgabe sind „alle gut gelaunt“

Gabriele Ehrmann sagt, die jungen Menschen bekämen Einblicke, die man sonst nicht habe. „Es ist ein gutes Zeichen, wenn man feststellt, dass ehrenamtliche Arbeit etwas bringt“, sagt sie.

Zwischen 12 und 13 Uhr wird es etwas kuscheliger. Zum Mittagessen füllt sich die Leonhardskirche. Karin Longus und Manfred Stock haben dann ordentlich zu tun. Die zwei verantworten an diesem Tag die Geschirrrückgabe, also die letzte Station, rechts neben dem Eingang. Die Gäste laden hier ihre Teller ab, die meist, aber nicht immer leer gegessen sind: Mal ist der Kartoffelsalat übrig, mal die Panade vom Fisch abgekratzt. Dennoch sagt Manfred Stock: „Es ist die dankbarste Stelle. Die Leute sind alle gut gelaunt, weil sie nun satt sind.“

Ehrenamtliche nehmen extra Urlaub, um zu helfen

Seit rund zehn Jahren ist der Rentner für die Vesperkirche im Einsatz. Wie er hier reingeraten ist? „Ich hatte einen Deal mit einer ehemaligen Arbeitskollegin. Wir haben abgemacht, wenn sie ausscheidet, dann steige ich für sie ein.“ Karin Longus wollte nach ihrer Scheidung einfach unter Leute und helfen. „Das war sehr heilsam“, sagt sie.

Seit 2005 nimmt sie sich jedes Jahr zwei Wochen Urlaub, um Dienst in der Vesperkirche zu machen. „Die Menschen haben hier ein großes Mitteilungsbedürfnis“, sagt sie.

Das erlebt auch Friseurin Petra Hustedt. Manchmal erzählen ihr die Leute, weshalb sie auf die Vesperkirche angewiesen seien. „Nicht jeder ist obdachlos. Manche haben eine kleine Rente oder sind allein. Viele mögen sicher auch die Berührung, weil sie das sonst nicht haben. Die Begegnungen sind schön“, sagt sie. In ihrer Mittagspause setzt sie sich daher an eine der langen Tafeln und mischt sich unter die anderen Gäste. Manfred Stock sagt, es sei eine wunderbare Einrichtung. „Aber schade, dass man sie braucht.“

Die Vesperkirche Stuttgart dauert noch bis zum 2. März. Sie soll Menschen, die sich vieles nicht leisten können, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen.