Vor dem Stuttgarter Landgericht berichtet ein Jugendlicher über Schläge, Tritte und Drohungen. Und auch, warum er mit seinen Leidensgenossen auf eine kurdische Fahne pinkeln musste, weil er die Osmanen Germania verlassen wollte.
Stammheim - Bis 12.36 Uhr sendet die Kamera ein monotones Bild: Eine violett-grün-orange-pinkfarbene Papiergirlande hängt im Raum. Außerdem eine elektronische Dartscheibe. Unten rechts im Bild ist ein runder Tisch zu sehen, links ein rechteckiger. Halb rechts ein Feuerlöscher und eine Kiste Bier. Es ist der Raum, den das Landeskriminalamt im Januar 2017 überwachte, weil die Ermittler Wind davon bekamen, dass sich dort die Stuttgarter Sektion des Boxclubs Osmanen Germania treffen. Die Polizeikamera wurde entdeckt. Doch die bis dahin aufgezeichneten Bilder sind jetzt wichtige Beweismittel im Osmanen-Prozess vor dem Stuttgarter Landgericht.
Durch die Milchglasscheibe der Tür zu dem überwachten Raum erkennt man ab und an den blauen Pullover der vorbeieilenden Kellnerin in der Gaststätte Kronenstüble. Sie ahnt offenbar nicht, was wenig später in dem Zimmer vor sich gehen wird. Genau eine Stunde und 24 Minuten später eskaliert dort die Gewalt. Mehrere Osmanen gehen auf drei ihrer Kameraden los. Sie schlagen, demütigen, berauben, fotografieren und filmen ihre jugendlichen Opfer.
Die brutalen Angreifer drohen den jungen Männern, ihnen Ohren und Penisse abzuschneiden, ihre Mütter und Schwestern zu vergewaltigen, sie zu zerfleischen. Immer wieder müssen die Drangsalierten ihr eigenes Blut vom Boden wischen. Einer der Angeklagten „hat uns gefragt: ‚Habt ihr Angst vor dem Tod?‘“, berichtete eines der Opfer den Richtern, die sich im Hochsicherheitsgerichtssaal des Stammheimer Gefängnisses ein Bild von dem machen wollen, was vergangenes Jahr im beschaulichen Dettingen an der Erms geschah.
Führungsriege der Osmanen in Untersuchungshaft
Acht Mitgliedern der rockerähnlichen, vor allem von türkischen Migranten gebildeten Gruppe Osmanen Germania Boxclub (OGBC) werfen Stuttgarter Staatsanwälte schwerste Straftaten vor: versuchter Mord, versuchter Totschlag, gefährliche Körperverletzung, Zuhälterei, räuberische Erpressung, Waffen- und Drogendelikte. Auf der Anklagebank sitzen auch der frühere Weltpräsident der Gruppe, Mehmet Bagci, sein Stellvertreter Selcuk Sahin, der Anführer der Stuttgarter Sektion, Levent Uzundal, und sein Waffenmeister Toni Wörz. Er soll – zusammen mit dem ins türkische Izmir geflüchtete Vize-Chef der Stuttgarter Osmanen, Mustafa Kilinc, die Bestrafung der drei Jugendlichen in Dettingen initiiert haben.
Das Vergehen des Trios: Es wollte nicht mehr bei den Osmanen mitmachen. Die drei Jungs waren 2016 auf der Suche nach einem Boxclub. Mitglieder des OGBC sollen sie, so die Zeugenaussagen, umworben haben und im Dezember 2016 zu einem Treffen der Gruppe nach Altbach bei Esslingen eingeladen haben. Dort wurden die Aspiranten Zeugen, wie ein anderer Osmanen-Aussteiger malträtiert wurde. Als dieser junge Mann zu Boden geschlagen worden sei, habe ihm sein Peiniger Mustafa Kilinc immer wieder „gegen den Kopf gekickt – wie gegen so einen Ball“, schilderte der Zeuge. Dann habe Kilinc das benommene Opfer hochgezogen, dessen Kopf auf den „Tisch geknallt“ und gedroht, ihm das Ohr abzuschneiden.
Zunächst bewahrt einen Bluter seine Erkrankung vor der Tortur
Bei so etwas, machte der junge Zeuge deutlich, hätten er und seine Freunde nicht mitmachen wollen. Den Mut, sich nicht mehr mit den Osmanen zu treffen, brachten sie indessen nicht auf: Ihre Pässe seien fotografiert worden, über Kurznachrichten und Telefonate hielten die Osmanen Kontakt zu den neuen Hängern, wie Anwärter genannt werden. Angst machte den drei Jungs auch, dass Kilinc sie bei dem Treffen in Altbach gezwungen habe, sich selbst mit einem Messer in den rechten Oberschenkel zu stechen. Dabei habe der Stuttgarter Vize-Chef nur bei einem der drei Erbarmen gezeigt: Der Junge „hat irgend so eine Krankheit. Wenn der blutet, hört das nicht mehr auf“.
Das hielt die Osmanen Wochen später in Dettingen nicht davon ab, die Jungs zu peinigen. Besonders heftig, so zeigt es das Polizeivideo, misshandelten sie den Bluter. Dann wird das Bild urplötzlich dunkel. Es ist 14.27 Uhr. Einer der Männer aus dem Raum hatte die Überwachungskamera aufgespürt und mit einem Briefumschlag abgedeckt. Für lange elf Minuten wurden keine brauchbaren Bilder mehr aufgezeichnet. Ob die Osmanen wussten, wem die Kamera gehört, ist ungewiss. Sie scheinen jedoch Wert darauf gelegt zu haben, dass ab diesem Zeitpunkt nur noch Bilder und Videos existieren, die sie selbst angefertigt haben.
Das Opfertrio – so die Zeugenaussagen und Geständnisse – musste auf eine Fahne der in Deutschland als Terrororganisation eingestuften Arbeiterpartei Kurdistans, der PKK, urinieren. Ersatzweise sei ihnen auch angeboten worden, darauf zu koten oder sich erbrechen. Die Szenen wurde von Osmanen gefilmt und fotografiert. Das ist deshalb bedeutsam, weil das hessische Landeskriminalamt im Frühjahr 2016 Telefonate von Metin Külünk, einem Abgeordneten der türkischen Regierungspartei AKP und Jugendfreund des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, abhörte. In Gesprächen, so steht es in den unserer Zeitung und dem ZDF-Magazin „Frontal 21“ vorliegenden Abhörprotokollen, forderte Külünk vor allem Anfang April 2016 die Osmanen „regelrecht auf, öffentliche Veranstaltungen kurdischstämmiger Vereine und Parteien zu stören und gegebenenfalls mit Stöcken auf deren Köpfe zu schlagen“. In jedem Fall seien „gewalttätige Störmanöver zu filmen und dem türkischen Staat als Abschreckung zur Verfügung zu stellen“.
Osmanen-Chef Bagci ließ sich offenbar nicht lange bitten: Am 27. April 2016 führte er um 17.24 Uhr ein Telefongespräch mit dem regierungsnahen, in Deutschland arbeitenden Journalisten Vedat Alyaz. Diesem berichtete Bagci, dass er jetzt „das PKK-Ding in Stuttgart lösen“ wolle. Seine Osmanen seien Nationalisten und würden ihrem Volk zur Hilfe eilen. „Niemand wird uns von unserer Sache abbringen. Wir sind bereit, für unsere Sache zu sterben und zu töten.“
Geld für Waffenkäufe vom Erdogan-Vertrauten
Bagci bekommt Geld von Külünk, um Waffen für seine Osmanen zu kaufen. Die Truppe fungiert sozusagen als Erdogans Garde in Deutschland, die Kritiker und Kurden mundtot macht. Nur: Gerade die sich aus den hessischen Abhöraktionen ergebenden engen Verflechtungen zwischen dem türkischen Staat und den Osmanen Germania spielen im aktuellen Stuttgarter Verfahren keine Rolle. Den Ermittlern in Baden-Württemberg liegen die hessische Erkenntnisse dazu nicht vor.
Wer die muskelbepackten Angeklagten und ihre Unterstützer im Stammheimer Gerichtssaal sieht und von ihren brutalen Taten hört, der versteht eines allerdings nicht: Warum die Kerle während der Gerichtsverhandlung immer wieder aufs Klo verschwinden und warum keiner von ihnen alleine aufs stille Örtchen will. Dazu müssen sie immer zu zweit oder zu dritt los. Wie zum Nasepudern.