Rückhalt: Mesut Özil mit Torwart-Trainer Andreas Köpke (rechts). Foto: imago sportfotodienst

Die unwürdigen Anwürfe gegen Özil und Co. führen vor Augen, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist und wieviel Anstrengung es kostet, sie zu erhalten, kommentiert Jan Sellner.

Stuttgart - Deutschland hat ein wichtiges Fußballspiel verloren und ist aus dem WM-Turnier geflogen. Genauer die deutsche Nationalmannschaft. Das ist nicht schön, aber verkraftbar, zumal selbst hart gesottene Fans der Meinung sind, die Mannschaft habe es nicht verdient gehabt, weiterzukommen.

Weniger schön, offen gesagt, hässlich sind bestimmte Reaktionen in Deutschland auf das Ausscheiden des DFB-Teams. Vor allem ein Spieler ist zur Zielscheibe für Anwürfe geworden: Mesut Özil. Für seine naive PR-Aktion für den türkischen Präsidenten Erdogan vor Beginn der Weltmeisterschaft ist er und sein ebenfalls türkisch-stämmiger Mitspieler Ilkay Gündogan zurecht kritisiert worden. In der Folge ging allerdings jedes Maß verloren. Was in den sogenannten sozialen Medien und anderswo verbreitet wurde, war teils offener Hass. Er richtete sich gegen die Person – einschließlich ihrer Physiognomie. Ein Fall von Rassismus.

Wut macht blind

Nach der Niederlage vom Mittwoch hat dieses üble Spiel noch eine Steigerung erfahren. Dass Özil in einer schwachen Mannschaft noch zu den Besseren gehörte, wie eine Analyse ergibt, zeigt, dass Wut blind macht. Glücklicherweise finden sich im Netz auch andere Reaktionen: „Ich würde gerne in einem Land leben, in dem erfolgreiche Gegner nicht als ,Schlitzaugen‘ und deutsche Nationalspieler türkischer Abstammung nicht als ,Kanake‘ beschimpft werden, sondern man eine Niederlage fair nimmt“, schreibt ein Nutzer bei Twitter und fügt hinzu: „Vielleicht im nächsten Leben.“

Eigentlich hatte man geglaubt, dass könne schon in diesem Leben der Fall sein. Spätestens seit dem „Sommermärchen“ von 2006. Erinnert sich noch jemand daran? Deutschland wurde nicht nur für seinen Fußball gefeiert, sondern auch für sein Team, weil es so multikulturell war. Die gesellschaftlichen Verhältnisse Deutschlands spiegelten sich endlich auch in der Nationalmannschaft, hieß es. Dieser Umstand floss in viele Sonntagsreden ein. Das DFB Team wurde zum Sinnbild gelungener Integration. Bei der WM 2010 in Südafrika sponn man diese Erzählung fort. Öczan Mutlu, ein Grünen-Politiker, befand: „Unser neuer Star Özil ahnt wahrscheinlich nicht einmal, was für eine integrationspolitische Kraft er verkörpert. Sein Tor, das uns ins Achtelfinale beförderte, ist für die Deutsch-Türken vermutlich mehr wert als etliche Integrationsgipfel der Bundesregierung.“ Der WM-Gewinn 2014 unterstrich solche Sätze noch.

Von der Vorbildfunktion des DFB-Teams redet keiner mehr

Jetzt in Russland sind zum Teil dieselben Spieler aufgelaufen: außer Özil auch Jerome Boateng oder Sami Khedira. Dazu Antonio Rüdiger, der ebenfalls einen migrantischen Hintergrund hat. Das bunte Bild war dasselbe, doch das Klima im Land hat sich geändert. Politiker vom Schlage eines Alexander Gauland lassen verlauten: „Die Nationalmannschaft ist nicht mehr deutsch“ – und finden dafür auch noch Zustimmung. Von der Vorbildfunktion des DFB-Teams für Integration redet keiner mehr. Nicht etwa, weil diese selbstverständlich geworden wäre, sondern weil der Fokus heute auf die Bruchstellen in der Gesellschaft gerichtet ist – ausgehend vom Flüchtlingsthema.

Fußball verbindet, und sportlicher Erfolg hat einen Effekt in die Gesellschaft hinein. Die Wirkung wurde jedoch überschätzt. Diese Erfahrung hat auch schon Frankreich gemacht. Die unwürdigen Ausfälle gegen Özil und Co. angesichts der Niederlage führen jedenfalls vor Augen, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist und wieviel Anstrengung es kostet, sie zu erhalten. Das gilt auch für die Integration. Die Nationalmannschaft steht wieder am Anfang. Der Rest der Gesellschaft in gewisser Weise auch.

jan.sellner@stzn.de