Flügelmalerei des Wengenaltars: Heimsuchung – Maria und Elisabeth Foto: Ulmer Museum

Die Stiftskirche St. Michael war für ihre besonders prächtige und aufwendige Innenausstattung weithin bekannt. Für eine Neupräsentation eines der berühmten Altäre hat sich das Ulmer Museum an ein kunsthistorisches Puzzlespiel gemacht.

Ulm - Unweit des Ulmer Münsters, am Rande des mittelalterlichen Stadtzentrums, trafen sich seit Beginn des 15. Jahrhunderts die Maler und Bildhauer der Lukasbruderschaft in der gotischen Stiftskirche St. Michael zu den Wengen. Hier befand sich der spirituelle und gesellschaftliche Mittelpunkt des künstlerischen Lebens der süddeutschen Metropole, hier versammelten sich die Großmeister der Ulmer Kunst wie Hans Schüchlin oder Bartholomäus Zeitblom.

So war es kein Zufall, dass die Stiftskirche St. Michael für ihre besonders prächtige und aufwendige Innenausstattung weithin bekannt war. Acht große Altäre sollen den Kirchenraum geschmückt haben, der wohl bedeutendste war jener monumentale Hochaltar, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts einem barbarischen Akt der Zerstückelung und willkürlichen Veräußerung ausgesetzt war und nun für eine spannende und wissenschaftlich hochrangige Ausstellung im Ulmer Museum rekonstruiert wurde.

Es waren nämlich nicht die Bilderstürmer der Reformation, welche die Einzelbilder des großen Flügelaltars aus St. Michael auseinandergerissen haben. Den sogenannten Götzentag des 19. Juli 1531, als insbesondere viele Altarbilder, Skulpturen und Glasfenster des Ulmer Münsters zerstört wurden, hatte der Wengenaltar mehr oder weniger unbeschädigt überstanden. Später war er dann abgebaut und in Einzelteile zerlegt eingelagert worden. Erst nach der Säkularisation im Jahr 1803 wurden die Altarflügel zersägt und die einzelnen Bildtafeln zum lächerlichen Preis von 13 Gulden an Bürger der Stadt verkauft.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts gelangten acht Einzelbilder des Altars in das Eigentum des Ulmer Münsters, die übrigen kamen in den Besitz der Museen in Ulm, Karlsruhe, Stuttgart, Lübeck und ins weit entfernte Dublin. Gänzlich verloren gingen durch die Aufteilung und den Verkauf drei der Einzelbilder des Retabels sowie die Predella, die zu vermutenden Schnitzfiguren im Schrein und das den Altar krönende Gesprenge.

Altar aus Überresten rekonstruiert

Es ist nun das Verdienst des Ulmer Museums, nicht nur die noch vorhandenen Teile des Altars zusammengebracht zu haben, sondern darüber hinaus aus diesen Überresten den Gesamtzusammenhang des Altars rekonstruiert und konservatorisch gesichert zu haben.

Dabei ergänzten sich die Arbeit der Kunsthistoriker und die naturwissenschaftlichen Analysen der Restauratoren. Ergebnis des Forschungsprojekts ist die gelungene Einordnung der verbliebenen Teile in das ursprüngliche Bildprogramm des Wengenaltars, in dem die sechzehn Gemälde in der Art eines komplizierten Puzzles in die richtige, das heißt also in die ursprüngliche Anordnung gebracht wurden. So erhalten die dreizehn Bildtafeln der Innenseiten der Altarflügel ihren intendierten ikonografischen Sinn und verbinden auf durchaus originelle Art und Weise Szenen aus dem Leben Mariens und Christi mit Episoden der Passion und dem eucharistischen Nachleben Jesu.

Der Altar ist ein Gemeinschaftswerk der beiden wichtigsten Ulmer Maler dieser Zeit, Bartholomäus Zeitblom und Jörg Stocker, die, obgleich die stilistischen Eigenheiten der beiden Meister und ihrer Werkstätten deutlich hervortreten, den monumentalen Altar als ein formal und inhaltlich geschlossenes Meisterwerk der Spätgotik gestalteten.

Das Nachleben Jesu als zentrales Thema

Das Bildprogramm des Wengenaltars wurde offensichtlich ganz explizit auf die Augustiner-Chorherren des St.-Michael-Stifts ausgerichtet, für die das Thema des Nachlebens Jesu, insbesondere in der Eucharistie, von zentraler Bedeutung war. Der Opfertod Christi wird durch das Abendmahl stets aufs Neue vergegenwärtigt, die tägliche Liturgie verbindet sich im Kontext des Bildprogramms des Altars mit dem heilsgeschichtlichen Wirken des historischen Jesus und setzt dieses über Ort und Zeit hinweg in die Gegenwart der Augustiner um 1500 fort.

Seinen stärksten Ausdruck findet dieses theologische Konzept in der ikonografisch originellen Darstellung „Der sakramentale Segen“ (Kunsthalle Karlsruhe), die Bartholomäus Zeitblom geschaffen hat. Mit triumphaler Geste präsentiert hier ein Priester, flankiert von zwei feierlich weiß gewandeten Messdienern, die gewandelte Hostie in einer kostbaren Monstranz.

Die Szene spielt sich in einem kastenartigen Kirchenraum ab, der im Hintergrund von einem Klappaltar abgeschlossen wird, das „Bild im Bild“ macht den besonderen Reiz der Tafel aus. Zeitblom gelang ein Gemälde von suggestiver Unmittelbarkeit der Darstellung und exquisiter formaler Ausgestaltung, wobei insbesondere die delikate Farbgebung weit über den ansonsten eher biederen Einsatz der Farbe in der Ulmer Malerei hinausgeht.

Vorn der Ölberg, hinten die Silhouette Ulms

Das Bildmotiv des am Ölberg betenden Christus auf der Außenseite des Altars stellt einen direkten Bezug zu Ulm her. Im Hintergrund der neutestamentarischen Szene ist eine mittelalterliche Stadt zu sehen, die jedoch nicht der Bildtradition folgend als ein imaginiertes Jerusalem geschildert wird, sondern eindeutig als die Silhouette des spätmittelalterlichen Ulm gestaltet ist. Das herausragende Bauwerk der gotischen Skyline ist der noch unvollendete Turm des Münsters.

Durch dieses Detail wurde nicht in erster Linie der Lokalpatriotismus der Reichsstädter bedient, sondern vielmehr ein visueller Gegenwartsbezug zum Erlösungswerk Christi hergestellt. So wie für die Künstler, die den Wengenaltar geschaffen haben, Jerusalem in Ulm war, so war Jesus den Ulmern im spirituellen Sinne so gegenwärtig wie ein Mitmensch.

Die Ausstellung im Ulmer Museum ergänzt die Bildtafeln des Wengenaltars durch zahlreiche Gemälde und Zeichnungen der Ulmer Malerschule des ausgehenden Mittelalters und präsentiert, ausgehend von einem ihrer zentralen Werke, die Hochblüte der Kunst in der Stadt an der Donau.