Touristen in Tschernobyl in ihren Schutzanzügen. Foto: Schweighofer/N-Ost

Am 26. April 1986 kam es in Tschernobyl zum Super-GAU. 25 Jahre später kommen die Touristen.

"Hoffentlich sind bald alle da", murmelt Maxim Frantschuk und zündet sich eine Zigarette an. Es ist 6 Uhr morgens. Auf einem Parkplatz neben der U-Bahn Station Lukjanowska in Kiew steht ein weißer Minibus. Davor warten 15 Touristen. Sie kommen aus Deutschland, Österreich und den USA, die meisten arbeiten als Diplomaten in der Ukraine. Das Ziel der Reise: Tschernobyl und die Geisterstadt Prypjat.

Mascha öffnet ihren Rucksack, prüft, ob der Fotoapparat funktioniert. Sie kommt aus Sankt Petersburg, lebt erst seit kurzem in Kiew. Ihr Mann arbeitet im Deutschen Konsulat. "Ich interessiere mich für Fotografie und will in Tschernobyl gute Aufnahmen machen", sagt Mascha. "Mir ist klar, dass diese Reise gefährlich ist, aber ich will mir die Kulisse nicht entgehen lassen", so die 28-Jährige.

John arbeitet als Verwaltungsangestellter in der amerikanischen Botschaft. "Ich bin immer nur für ein Jahr in einem Land", sagt John. "Tschernobyl ist das Erste, was ich mit der Ukraine verbinde." John findet nichts Besonderes daran, dass die meisten Teilnehmer der Exkursion Diplomaten sind. "Wir sind doch auch nur Menschen und wollen etwas in unserer Freizeit erleben." Unter den Touristen sind auch Ukrainer, so wie Igor und seine Freundin Elena. "Für uns ist das ein Abenteuertrip", sagt Igor. Maxim Frantschuk ist Reiseleiter, er begleitet seit vielen Jahren Touristen nach Tschernobyl.

Die Bustour hat der Diplomatische Service der Ukraine organisiert. Die Behörde kümmert sich um die Belange ausländischer Botschaftsmitarbeiter. "Die Ukraine macht mit den Exkursionen Öffentlichkeitsarbeit", sagt Reiseleiter Maxim. Zur Verwaltung der Strahlenzone ist die Ukraine auch auf ausländische Hilfe angewiesen. Jährlich sind Millionen Euro notwendig, um Techniker zu bezahlen und um den Betonsarkophag über dem havarierten Reaktor instand zu halten. Westliche Diplomaten seien die ideale Zielgruppe für eine PR-Kampagne. Denn sie könnten bei ihren Regierungen dafür sorgen, dass Tschernobyl nicht in Vergessenheit gerät, meint Maxim. Was nicht erst seit dem Unfall von Fukushima mehr als unwahrscheinlich ist. Auch normale Touristen können nach Tschernobyl fahren. Maxim glaubt jedoch nicht, dass der Staat mit Katastrophen-Tourismus Geld verdienen kann: "Die Einnahmen machen nur einen geringen Teil des Geldes aus, das für die Verwaltung der Strahlenzone notwendig ist."

"Eine Reise nach Tschernobyl kostet bei uns zwischen 150 und 200 Dollar", sagt Elena Kowalenko, Managerin einer Reiseagentur in Kiew. "Die Leute, die bei uns buchen, reichen vom Abenteurer bis zum Wissenschaftler." Ihre Agentur würde jedoch keinen Katastrophen-Tourismus verkaufen: "Auf unseren Reisen vermitteln wir auch Hintergrundinformationen." Die Katastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima habe noch keine Auswirkungen auf das Geschäft gezeigt. "Wir organisieren alle zwei Monate eine Reise für 15 bis 20 Teilnehmer", sagt die Managerin.

30 Kilometer vor Tschernobyl macht der Bus halt. "Wir haben die Sperrzone erreicht", ruft Maxim. Eine Schranke ist heruntergelassen, am Straßenrand steht ein Schild mit einem Atomwarnzeichen. Polizisten betreten den Minibus, die Reisepässe werden kontrolliert. Als die Fahrt nach zehn Minuten weitergeht, gibt Maxim der Reisegruppe Sicherheitshinweise. Zum Schutz vor der Strahlung dürfen die Touristen ab jetzt keine mitgebrachte Verpflegung mehr essen. Die Strahlendosis, der der Körper während der gesamten Exkursion ausgesetzt ist, sei jedoch nicht gefährlich. Igor und Elena scheinen das nicht zu glauben. Beide haben sich einen Schutzanzug übergezogen.

Am Straßenrand tauchen plötzlich hölzerne, heruntergekommene Bauernhäuser auf. Die Fensterscheiben sind eingeschlagen, die Häuser sind völlig von Pflanzen überwuchert. Wenige Minuten später erreicht der Reisebus Tschernobyl. Die Stadt wurde nach der Katastrophe nur teilweise evakuiert. Heute leben in Tschernobyl noch etwa 2000 Menschen, vor allem Ingenieure, Arbeiter und Sicherheitsleute.

Bevor es zum Atomkraftwerk geht, verteilt Maxim Strahlenmessgeräte an die Exkursionsteilnehmer. Igor und Elena schalten ihr Messgerät ein, die Anzeigen auf dem Display schwanken zwischen zehn und elf Mikroröntgen pro Stunde. Das entspricht der normalen, natürlichen Strahlung. Vor dem Atomkraftwerk, das sich zehn Kilometer entfernt von Tschernobyl befindet, beträgt die Strahlung 800 Mikroröntgen pro Stunde. Dieser Strahlendosis kann man sich einen Tag lang aussetzen. Maxim pfeift die Gruppe zusammen, denn nun steht der Höhepunkt der Reise an: die Fahrt in die Geisterstadt Prypjat.

Prypjat liegt direkt neben dem Atomkraftwerk. Zum Zeitpunkt der Katastrophe, am 26. April 1986, lebten in Prypjat 50000 Menschen, die meisten davon arbeiteten in Tschernobyl. In Prypjat hat die Reisegruppe zwei Stunden Zeit, um die Stadt zu erkunden. "Ich hätte nicht gedacht, dass sich alles in so einem schlechten Zustand befindet", sagt Mascha, als sie aus dem Minibus steigt. Alles ist überwuchert, in den Häusern sieht es aus wie nach einem Krieg. Fast alle Gebäude wurden geplündert. "Behaltet euer Messgerät im Auge", warnt Maxim. Die Strahlung hatte sich nach der Reaktorexplosion nicht gleichmäßig verteilt. Der radioaktive Grafitstaub ist an unterschiedlichen Stellen niedergegangen. Daher kann es vorkommen, dass es an einer Stelle nur wenig Strahlung gibt, fünf Meter weiter die Dosis jedoch sehr hoch ist.

Maxim führt die Gruppe in ein Hotel, damit die Reisenden von der obersten Etage aus Fotos machen können. Danach geht es weiter in eine Schule. Auf einer Schulbank liegt das Foto eines kleinen Mädchens, an der Wand hängen Pappschachteln mit kyrillischen Buchstaben. "Alles hier erinnert mich an meine Kindheit", sagt Mascha. "In der Schule hatten wir die gleichen Pappschachteln mit den Buchstaben. Das ist wie eine Reise in die Vergangenheit. " Die Schule zu sehen, sei für sie der bewegendste Moment der Fahrt.

Später sitzt die Gruppe wieder in dem weißen Minibus, es geht zurück von Prypjat nach Tschernobyl. Igor hält noch einmal das Strahlenmessgerät in die Luft. Die Zahlen auf dem Display steigen rasant an: Erst 2000, dann 3000, schließlich werden 5000 Mikroröntgen angezeigt. "Schnell, schnell, geben Sie Gas", ruft Igor dem Busfahrer zu. Dann ist die gefährliche Stelle überwunden, die Strahlung sinkt wieder auf normales Niveau.

Am Ende der Sperrzone hält der Bus an einem letzten Kontrollpunkt. Bei jedem wird die Strahlung gemessen, doch niemand hat eine erhöhte Dosis abbekommen. Reiseleiter Maxim mahnt trotzdem zur Vorsicht. "Werft eure Kleidung in den Müll", rät er den Touristen. Auf der Rückfahrt herrscht Schweigen im Minibus. Später sagt Igor, er würde die Reise wiederholen, auch wenn sie gefährlich sei. Seine Freundin Elena widerspricht: "Einmal reicht." Maxim hat einen Film eingelegt. Auf dem Monitor läuft "Der Hase und der Wolf", eine Zeichentrickserie aus längst vergangenen Sowjetzeiten.

Tschernobyl

Anreise
Flüge von Deutschland in die Ukraine gibt es ab etwa 350 Euro. Für die Einreise genügt der Pass.

Veranstalter
Die Reise nach Tschernobyl ab Kiew können Sie buchen bei Center Pripjat, www.chernobylzone.com, Interesniy Kiev, www.interesniy.kiev.ua/chernobyl2 oder Royal Voyage, www.royal-voyage.com. Bezahlt wird vor Ort, die Tour kostet zwischen 100 und 200 Euro. Ein Vortrag zur Tschernobyl-Katastrophe und das Mittagessen sind meist inklusive.

Strahlung
Experten sind sich uneinig, wann die beste Jahreszeit für eine Exkursion ist. Einige raten davon ab, im Sommer zu fahren, da bei Trockenheit mehr radioaktive Teilchen in der Luft schweben können. Andere halten den Winter für gefährlicher, weil sich bei Feuchtigkeit mehr Radioaktivität am Boden absetzt. Die Strahlendosis, die man an einem Tag in der Sperrzone abbekommt, gilt als ungefährlich.

Verhaltensregeln
Sie sollten auf den gepflasterten Wegen bleiben und nicht auf Moose, Erde oder in Pfützen treten. Berühren Sie nichts – schon gar kein Metall, da daran die Radioaktivität haften bleibt. In Prypjat dürfen Sie auf keinen Fall auf Häuserdächer steigen, da sich auf den Dächern radioaktiver Grafitstaub angesammelt haben kann. Es ist zudem verboten, Gegenstände aus der Sperrzone mitzunehmen.