Ab September ist er Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters: Teodor Currentzis Foto: dpa

Im Herbst diesen Jahres übernimmt Teodor Currentzis die Leitung des SWR-Symphonieorchesters. Schon jetzt konnte man hören und sehen, worauf die viel gerühmte Magie des Griechen gründet.

Stuttgart - Der Klang kommt aus dem Nichts. Er bleibt, er lebt, er breitet sich aus – und dann geht er dorthin zurück, wo er herkam. Dass dort wirklich nichts ist, würde Teodor Currentzis allerdings wohl vehement bestreiten: Von Transzendenz spricht der musikalisch in Russland sozialisierte Grieche stattdessen mit Vorliebe, und viele, die ihn mit seinen langen Armen am Pult Klänge formen sehen, als sei Musik eine nur für Orchestermusiker sichtbare Knetmasse, sprechen von Magie, sehen in ihm eine Art modernen Pult-Paganini. Zwei Mal erlebt man am Donnerstagabend im ausverkauften Beethovensaal den Wechsel von Werden und Vergehen der Klänge, erst bei Anton Bruckners letzter, neunter Sinfonie, dann bei György Ligetis Orchesterstück „Lontano“ aus dem Jahr 1967. Bruckner hat seine unvollendete Neunte „dem lieben Gott“ gewidmet, und als Currentzis das monumentale Werk jetzt vor einer auf geradezu atemlose Weise hochkonzentrierten Hundertschaft von Musikern dirigiert, lässt er im abschließenden Adagio den Schlusston der Hörner fast hineinfließen in den Anfangston von György Ligetis „Lontano“, den Flöte und Cello im vierfachen Pianissimo produzieren. Pragmatisch formuliert, verstärken und ergänzen sich hier zwei Klangflächenstücke, deren erstes dem zweiten harmonisch schon den Boden bereitet. Aber der Abend, mit dem sich der designierte erste Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters schon vor seinem Amtsantritt dem gespannten Stuttgarter Publikum vorstellt, ist weit mehr als nur dies.

Magie als Dreiklang von Persönlichkeit, Idee und Handwerk

Ja, wirklich, es geht um Magie. Was macht, was hat Currentzis, das andere Dirigenten nicht haben, und warum ist das so? Die Gründe kann man jetzt hören und sehen. Als Erstes: Der Mann hat Präsenz, Persönlichkeit, Charisma; wenn er in seinem typischen Outfit – enge Jeans, Stiefel, Hemd, alles in Schwarz – auf die Bühne kommt, ist ein Raum um ihn herum, eine Aura. Hebt der 45-Jährige die Arme, dann ist Spannung da, auf der Bühne ebenso wie davor, und die hoch konzentrierten Musiker, denen bis auf wenige Streichereinsätze fast alles in exzellenter Koordination gelingt, leisten nicht einfach einen Orchesterdienst, sondern bilden seine Gefolgschaft, eine verschworene Gemeinschaft. Wären sie weniger Profis, dann spielten sie womöglich mit offenen Mündern.

Magie, beweist Currentzis zweitens, fußt auf einer Idee – und so trägt er bei jedem Stück, in jedem Takt der Musik, klar nach außen, was er hören will. Für den dritten Ton im Dreiklang des Magischen sorgt schließlich schlicht exzellentes Handwerk. Das versieht der Dirigent ohne Stock, nur mit den bloßen Händen und zuallererst mithilfe dynamischer Staffelung und klangfarblicher Differenzierung. Er hat ein gutes Gespür für Balance, und indem er immer wieder effektsicher einzelne Stimmen und Phrasen aus dem Hintergrund nach vorne holt, formt er aus der Zweidimensionalität der Partitur ein mächtiges akustisches 3-D-Erlebnis.

Akustisches 3-D-Erlebnis

Das kommt der eminenten Körperlichkeit von Bruckners Sinfonie ganz ideal entgegen. Und es hilft zu verstehen, warum Teodor Currentzis als Messias gilt: weil er nämlich dem im klassischen Konzertbetrieb immer und immer durchexenzierten Kanon alter Werke das Besondere, Ereignishafte, Einmalige zurückgibt. So lässt er in Bruckners erstem Satz jetzt die solistischen Bläser wechselweise nach vorne und in den Hintergrund treten, bündelt die Streichergruppen, fasst ihr Spiel in weite, atmende Bögen, setzt außerdem die Reibung zwischen den fast maschinenhaften Steigerungen, den folgenden Zusammenbrüchen und den Choralthemen wirkungsvoll und mit genau der richtigen Dosis Weihrauch in Szene. Sehr rasch nimmt er die Pizzikati im zweiten Satz; die Wiederholungen haben erst etwas Manisches, dann eine fast Mendelssohnsche Elfenhaftigkeit. Und das Adagio schließlich sagt sich spätestens mit seinem schneidend in den Raum fahrenden siebenstimmigen Dissonanzakkord entschieden von allen harmonischen Verbindlichkeiten des 19. Jahrhunderts los

Wenn Ligetis Stück, weil die Einsätze der Stimmen immer gegen die Zählzeit erfolgen, zu schweben beginnt, sind Zeit und Maß gänzlich aufgehoben. Dabei modelliert Currentzis auch in „Lontano“ sehr fein nicht nur die Phrasierungsbögen und das dynamische An- und Abschwellen, sondern auch eine neue Art des Ausdrucks: Das große Pathos der Romantik ersetzen kleine, expressiv aufgeladene Parzellen. Der Klang kommt, bleibt, breitet sich aus und geht wieder zurück – ins Nichts oder ins Transzendente. Ein großer Abend.