„Mittendrin“ im Hospitalhof: Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider (Mitte) mit Lokalchef Jan Sellner (links) und Redakteur Tom Hörner (rechts). Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Kommunal-, Regional-, Europawahl – bei der StN-Veranstaltung „Mittendrin“ wird deutlich, dass der kommende Super-Wahltag für Parteien, Kandidaten und Wähler eine enorme Herausforderung darstellt.

Stuttgart - Wie groß ist die Verwirrung angesichts langer Stimmzettel, politischer Themen ohne Ende und einer Rekordzahl an Bewerbern? Über diese und andere spannende Fragen zur Wahl am 26. Mai haben am Dienstagabend im Hospitalhof Jan Sellner, Lokalchef unserer Zeitung, Redakteur Tom Hörner und die Gäste unserer Veranstaltung „Mittendrin“ mit dem Hohenheimer Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider diskutiert.

Der 54-Jährige ist der richtige Gesprächspartner zur richtigen Zeit: Denn Politik entscheidet sich nicht zuletzt darin, wer auf der Klaviatur der Kommunikation am besten spielt. Das gilt umso mehr, wenn, wie beim aktuellen Stuttgarter Kommunalwahlkampf, 913 Kandidaten, verteilt auf 20 Parteien und Listen, aufeinandertreffen. Doch was heißt das eigentlich, wenn so viele Gruppierungen wie noch nie um Macht und Sitze im Rathaus ringen? Für Frank Brettschneider, seit 2006 Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim, vor allem zweierlei: „Es zeigt, dass sich viele Menschen sehr intensiv engagieren – zum Teil für sehr kleine Themen –, und es spiegelt die in der Gesellschaft immer stärkere Ausdifferenzierung von Einzelinteressen wider.“ Das könne dazu führen, dass die konstruktive Arbeit im Gemeinderat schwerer werde. „Die Zusammenschlüsse einzelner Interessengruppen finden nicht mehr wie früher vor, sondern erst nach der Wahl im Gemeinderat statt“, analysiert der Wissenschaftler. Das Konstrukt sei deshalb insgesamt fragiler geworden.

Mobilität und Wohnen sind die Topthemen bei der Kommunalwahl

Dass Interessen unter diesen Bedingungen mitunter außerhalb der politischen Institutionen besser vertreten werden können als innerhalb, zeige der Verein Aufbruch Stuttgart, der sich nicht zur Wahl stellt. Den Wahlkampf selbst erlebt Brettschneider als bisher „eher verhalten“. Obwohl sich zwei Themen herauskristallisierten – Mobilität und Wohnen –, gebe es kein „ganz großes Thema“. Auch Stuttgart 21 sei es nicht mehr. Verwunderung lösen bei dem Kommunikationswissenschaftler viele Wahlplakate aus, die derzeit an den Straßenrändern zu sehen sind. „Ich hoffe, die Plakate werden im Laufe des Wahlkampfs noch etwas intelligenter.“ Die wissenschaftlichen Untersuchungen hierzu seien eindeutig, sagt der Wahlforscher: „Die Plakate, die mit Abstand am meisten bringen, sind Themenplakate mit Bildelement sowie einer klaren Botschaft dazu.“ Davon gebe es bisher sehr wenige. Reine Textplakate wie die der SPD würden praktisch nicht wahrgenommen. Aber auch die bei Parteien so beliebten Kopfplakate seien nicht sehr wirkungsvoll.

„Auch 16-Jährige sollten an der Europawahl teilnehmen dürfen.“

Bemerkenswert: Aktuelle politische Bewegungen wie Fridays for Future könnten sich nach Meinung Brettschneiders in einer höheren Wahlbeteiligung von Erstwählern auswirken, die an der Kommunalwahl bereits ab 16 Jahren teilnehmen dürfen. Das Argument, mit dem ebendiesen 16-Jährigen die Beteiligung an der Wahl des Europäischen Parlaments vorenthalten werde, hält Brettscheider „für schwach“. Dass das politische Wissen in dieser Altersgruppe nicht ausgeprägt sei, treffe nämlich auch auf andere Altersgruppen zu. Doch obwohl es gerade die jungen Wähler seien – wie auch engagierte Wortmeldungen junger Leute an dem „Mittendrin“-Abend zeigten –, die sich derzeit besonders stark für Europa interessierten, stehe die Jugend nicht im Mittelpunkt der Wahrnehmung der Parteien: „Parteien“, so Brettschneider, „richten sich nach denjenigen aus, die eine große Menge an Wählerstimmen bringen.“ Und das seien noch immer die Älteren. Seine Position ist klar: „Auch 16-Jährige sollten an der Europawahl teilnehmen dürfen.“