Stadtdekan Christian Hermes beklagt kriminelles Verhalten von früheren kirchlichen Amtsträgern. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Der Schock nach der Vorstellung des Missbrauchsberichts aus dem Erzbistum Freiburg sitzt tief. Besonders auch bei Christian Hermes, dem katholischen Stadtdekan von Stuttgart. Er wählt knallharte Worte und fordert Taten.

Der katholische Stadtdekan Christian Hermes ist um deutliche Worte nicht verlegen. So deutlich, wie nach dem am Dienstag vorgestellten Missbrauchsbericht aus der Erzdiözese Freiburg, seiner Heimatdiözese, ist er allerdings selten geworden. Die Fakten, die eine Kommission in Freiburg auf 600 Seiten zusammengetragen hat, belegen für ihn: „Wir haben es mit vorsätzlichem Rechtsbruch und Strukturen organisierter Kriminalität zu tun.“

Bei seinem traditionellen Jahresempfang vor mehr als 200 Gästen im Haus der Katholischen Kirche beklagte er am Dienstagabend „eine alle Werte des Evangeliums verratende Amoralität, ein schweres Amtsversagen und eine klerikal-narzisstische Empathielosigkeit gegenüber Opfern“. Den früheren Freiburger Erzbischöfen Oskar Saier (Amtszeit 1978 – 2002) und Robert Zollitsch (2003-2013) werden in dem Bericht schweres Fehlverhalten und gravierende Rechtsverstöße im Umgang mit Missbrauchs-Straftaten von Priestern vorgeworfen. Der amtierende Freiburger Erzbischof Stephan Burger leitete kirchenrechtliche Schritte gegen den 84-jährigen Zollitsch ein. Sein Vorgänger Saier ist 2008 verstorben.

„Selbstherrlichen Strukturen die Loyalität entziehen – nicht durch Austritt, sondern durch Einsatz“

Der Stuttgarter Stadtdekan forderte eine schonungslose Verfolgung und Aufarbeitung des Missbrauchskandals. Darüber hinaus brauche es grundlegende Reform der Strukturen der katholischen Kirche und ihres Amtsverständnisses: „Das monarchisch-absolutistische System und die ideologische Sakralisierung irdischer Machtverhältnisse sind erledigt“, sagte Hermes in seiner Ansprache. Es sei zu wenig, nur erschüttert zu sein: „Wir sind an einem Punkt, wo missbrauchsbegünstigenden und sich verabsolutierenden, selbstherrlichen Strukturen die Loyalität entzogen werden muss“, sagte er. Allerdings nicht durch Kirchenaustritt, „sondern durch Einsatz“.

Im Gespräch mit unserer Redaktion betonte Hermes, das Missbrauchsgutachten mache deutlich, „wie schamlos und kriminell Saier und Zollitsch kirchliches und staatliches Recht gebrochen haben“. So habe Zollitsch eine von der Bischofskonferenz veranlasste Rundabfrage zu den Missbrauchsfällen in den Diözesen boykottiert, obwohl er der Bischofskonferenz von 2008 bis 2014 selbst vorgestanden habe. „Da fällt mir nichts mehr ein“, sagte Hermes. Saier und Zollitsch hätten über Jahrzehnte Rechte gebrochen. Man habe es mit „Betrügern im Bischofsrock“ zu tun. Unabhängig von deren Verdiensten könne er sich eine positive Würdigung der beiden Bischöfe nicht mehr vorstellen.

„Wir müssen die Wirklichkeit ändern“

Der Stadtdekan betonte, es reiche heute nicht mehr aus, für kirchliche Reformen zu stimmen, wie sie im sogenannten synodalen Weg beschlossen wurden. „Wir müssen die Wirklichkeit ändern“, forderte er. „Die Gläubigen müssen aus der institutionell verordneten Unmündigkeit heraustreten und die Dinge selbst in die Hand nehmen. Es ist unsere Kirche“, sagte Hermes. Den „Clinch mit der Institution“ dürfe man dabei nicht scheuen. „Auch wenn das ungemütlich wird.“

Lobende Worte fand Hermes für die Haltung von Gebhard Fürst, dem Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Dieser setze sich glaubwürdig für die Aufarbeitung des Themas Missbrauch ein. Fürst hatte angesichts des Freiburger Missbrauchsgutachtens einen „Abgrund an Doppelmoral bei den Tätern“ beklagt. „Die Vertuschung von Straftaten und vor allem das vollkommene Desinteresse an den Opfern und ihren oftmals zerstörten Leben über einen langen Zeitraum hinweg durch die beiden Erzbischöfe Oskar Saier und Robert Zollitsch sind eine schwere Verletzung der Pflichten des bischöflichen Hirtenamtes und stehen in einem großen Widerspruch zur Heilsbotschaft des Evangeliums Jesu Christi.“ Selbstkritisch stellte Fürst fest, die deutsche Bischofskonferenz hätte sich schon viel früher energischer um Aufklärung bemühen müssen.

Ein Abschlussbericht in der Diözese Rottenburg-Stuttgart steht noch aus. Hermes wies darauf hin, dass die Aufarbeitung in den 27 deutschen Diözesen jeweils einzeln erfolge und noch lange nicht abgeschlossen sei. Ein Zwischenbericht lasse jedoch darauf hoffen, das sich das Thema Missbrauch und Vertuschung durch die Bischöfe in Rottenburg-Stuttgart weniger gravierend darstelle.

Untersuchung
Der Freiburger Report wurde von einer unabhängigen Arbeitsgruppe vorgestellt. Die sogenannte AG Aktenanalyse mit vier externen Fachleuten aus Justiz und Kriminalpolizei arbeitet seit 2019. Der Bericht soll aufzeigen, wie Vertuschung und Missbrauch in dem Erzbistum möglich waren. Es werden dafür 24 Missbrauchsfälle beispielhaft dargestellt. Ähnliche Studien gab es auch schon in anderen Bistümern, etwa in Köln und München. In Rottenburg-Stuttgart berief Bischof Gebhard Fürst im Unterschied zu anderen Diözesen vor gut 20 Jahren eine unabhängige „Kommission sexueller Missbrauch“ ein. Mit der Bearbeitung des Missbrauchsthemas ist eine spezielle Aufarbeitungskommission befasst. (dpa/red)