Im Freien ohne Maske feiern – wie riskant ist es wirklich? Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Inzwischen steigt die Zahl der Menschen, die wegen einer Covid-Erkrankung auf den Intensivstationen liegen, wieder deutlich an. Was Hoffnung macht sagt ein Stuttgarter Mediziner.

Die Zahl der Schwerkranken, die auf Intensivstationen in Deutschland mit Covid-19 behandelt werden, ist auf tausend gestiegen. Das geht aus dem Tagesreport des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) und des Robert-Koch-Instituts (RKI) hervor. So hoch war diese Patientenzahl seit Mitte Mai nicht mehr. Zum Vergleich: Im Dezember des vergangenen Jahres waren noch knapp 4900 schwer erkrankte Covid-19-Fälle zur gleichen Zeit behandelt worden, danach sanken die Werte ab.

 

Wie bewerten Experten die Lage auf den Intensivstationen?

Christian Karagiannidis, Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung, erklärt, auf den Intensivstationen sehe man zwar tendenziell einen Anstieg der täglichen Neuaufnahmen und eine Zunahme der Belegung auf nun tausend – „allerdings ist die Zunahme bisher insgesamt moderat“. Von den intensivpflichtigen Patientinnen und Patienten bräuchten etwa 50 Prozent respiratorische Unterstützung in Form von Sauerstoff oder Beatmung. In der Spitze seien das vor Ausbreitung der Omikron-Variante über 80 Prozent gewesen.

Wie sieht die tatsächliche Infektionslage aktuell aus?

Karagiannidis sagte, derzeit sei eine sehr hohe Infektionslast der Bevölkerung zu sehen, die über die Sieben-Tage-Inzidenz aber deutlich unterschätzt werde. So zeigten etwa Proben aus dem Abwassermonitoring einzelner Städte einen viel stärkeren Anstieg als die Inzidenz. Einige Kliniken berichteten Karagiannidis zufolge von mehr Lungenentzündungen auf den Normalstationen unter dem Einfluss des seit einiger Zeit dominierenden Omikron-Subtyps BA.5 und der Sublinie BA.4.

Wie hoch ist das Ansteckungsrisiko im Freien?

„Ein wichtiger Faktor ist hier sicher die mittlerweile dominierende Coronavariante BA.5“, sagt Gregor Paul, Oberarzt für Infektiologie am Klinikum Stuttgart. Diese sei nicht nur leichter übertragbar, sondern könne auch der durch frühere Infektionen und Impfungen erworbenen Immunität besser ausweichen. „Doch auch bei BA.5 ist das Infektionsrisiko draußen viel geringer als in geschlossenen Räumen“, so Paul. Allerdings gebe es auch bei Freiluftveranstaltungen Bereiche, in denen sich Menschen nahe kommen – etwa in den Schlangen vor Verkaufsständen oder Toiletten. Die Infektion könne aber auch vorher oder nachher passiert sein. „Die genaue Zuordnung einzelner Ansteckungen zu einem bestimmten Ereignis ist nach wie vor schwierig“, sagt Gregor Paul.

Wie sind die Erwartungen für den Herbst?

Bereits jetzt gebe es vereinzelt wieder schwere Verläufe von Corona-Infektionen, insbesondere bei älteren Patienten mit Vorerkrankungen, sagt Gregor Paul. Dieser Trend dürfte sich im Herbst verstärken. Wer aber keine weiteren Risikofaktoren habe, sei mit drei Impfungen recht gut vor einer schweren Covid-Erkrankung geschützt. Menschen aus dieser Gruppe könnten mit einer vierten Impfung warten, bis im Herbst die an Omikron angepassten Vakzine verfügbar seien. Sich vorsätzlich zu infizieren, um seinen Immunschutz aufzufrischen, sei dagegen keine gute Idee. Auch bei erneuten Infektionen seien schwere Verläufe möglich. Zudem sei das Long-Covid-Risiko nicht zu vernachlässigen.

Welche Rolle spielen neue Behandlungsmethoden?

Auf diesem Feld hat sich einiges getan. „Inzwischen gibt es Antikörperpräparate zur Vorbeugung gegen schwere Verläufe“, sagt Gregor Paul. Sie könnten etwa Patienten gegeben werden, deren Immunsystem infolge einer Chemotherapie oder einer Organtransplantation geschwächt ist. „Da gibt es eine Spritze ins Gesäß.“ Die Schutzwirkung könne dann bis zu sechs Monate betragen – wahrscheinlich auch gegen die neueren Omikronvarianten.

Wie könnte die Einschätzung des Infektionsgeschehens verbessert werden?

Amtsärzte fordern, dass das Abwasser in allen Kommunen auf Coronaspuren untersucht wird, um das Infektionsgeschehen besser einschätzen zu können – und nicht nur wie bisher in einigen Städten und Gemeinden. „Die Abwasseranalyse ist ein hervorragendes Instrument für die Pandemiekontrolle“, sagte der Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, Johannes Nießen.

Warum liefert die Abwasseranalyse gute Daten?

Bislang nehmen laut Johannes Nießen nur 20 deutsche Städte am Abwassermonitoring der Europäischen Union teil. „Optimal wäre, wenn alle Kommunen mitmachen würden. Je mehr Städte daran teilnehmen, desto präziser wird unser Bild vom Infektionsgeschehen.“ Die Methode koste wenig, der Aufwand sei gering, und man bekomme ein Echtzeitlagebild der Pandemie. Das Coronavirus befällt zwar hauptsächlich die Atemwege. Partikel des Erregers lassen sich jedoch auch im Stuhl und dementsprechend im Abwasser nachweisen.