Die Neuen Vocalsolisten Stuttgart bei Huihui Chengs „Your turn“ Foto: Martin Sigmund

Separatismus, Rechtspopulismus, bedrohte Privatheit, Informations-Overkill: Die Weltlage macht auch vor der zeitgenössischen Musik nicht Halt. Das seit jeher crossmedial aufgestellte Eclat-Festival experimentiert mit Appellen an die menschliche Gemeinschaft.

Stuttgart - Warum seid ihr so lieb zueinander? Auf zwei Leinwänden im Hintergrund ist die Frage zu lesen. Davor, im Kreis auf Pappquadern hockend, geben Besucher des Festivals Eclat ein Mikrofon durch die Reihen. Wie sehen sie den Menschen, der neben ihnen sitzt? Das sollen sie sagen, das ist die Aufgabe eines „Workshops der Liebe“, und dieser wiederum ist Teil des dreistündigen Großprojekts „Circles“, das am Donnerstagabend im Theaterhaus gleich zwei Säle in Beschlag nahm. Gabi Wüst nennt sich die Frau, die diesen Workshop als „Crashkurs“ erdachte – tatsächlich verstecken sich hinter der wüsten Dame der Komponist Martin Schüttler sowie die Performerin Mara Genschel, die auf ihrem Laptop die Aussagen der Zuschauer über ihre Sitznachbarn zusammenfasst und mit Kommentaren versieht.

Warum seid ihr so lieb zueinander? Das ist eine von Genschels vielen Fragen, die ein Beamer für alle sichtbar macht. Eine mögliche Antwort könnte mit den musikalischen Einwürfen der Neuen Vocalsolisten zu tun haben, die verteilt zwischen den Zuhörern sitzen und deren Aussagen verwandeln, indem sie sie singend in ein noch schöneres Licht stellen. Das wirkt, auch wenn das Ganze ein bisschen hemdsärmelig ist, durchaus auf die Runde zurück. Dies zumindest könnte eine Botschaft sein, nein, eine Utopie, an die man, auch wenn sie ziemlich schlicht ist, nur zu gerne glauben möchte: dass Musik die Welt ein Stückchen besser, positiver machen könnte.

Viel von dem, was Musik ist – nämlich organisierter Klang –, ist hier allerdings nicht zu hören. Das Konzept überwiegt. „Die künstlerische Äußerung, die sich abkoppelt von gesellschaftlichen Entwicklungen, wird zunehmend als amputiert empfunden. Man möchte Stellung beziehen“, zitiert das Programmheft Martin Schüttler, und das führt beim Projekt „Circles“ dazu, dass zu den Themen Solidarität, Gemeinschaft, Kommunikation und Interaktion viel gedacht und gemacht wird, aber nur wenig erklingt. Am meisten Töne finden sich noch in Alessandro Bosettis „These foolish Things“, wo die Bassklarinette (Garth Knox) mit zunehmender Differenziertheit auf Worte vom Tonband reagiert, und in dem munteren Gesellschaftsspiel „Your Turn“ von Huihui Cheng, in dem die Neuen Vocalsolisten auf der Bühne eine Art „Ich packe meinen Koffer“ mit Tönen, Silben, Geräuschen und lustigen Nebenregeln vorführen. Auch in Hannes Seidls ebenso launiger wie ernsthafter Hausmusik-Performance „Für uns . . .“ ist viel (vom vier- bis achthändig gespielten Klavier) zu hören, das den vorgegebenen performativen Rahmen füllt.

Wo, bitte schön, geht’s hier zur Musik?

Am wenigsten Musik enthält das, was Alexander Schubert („A perfect Circle“) als „therapeutische Gruppensitzung“ bezeichnet. Zwanzig Besucher sitzen auf Yogamatten in einem, zwanzig weitere in einem anderen Saal; der Rest des Publikums darf den paarweise drapierten Zuschauer-Akteuren per Videoübertragung dabei zuschauen, wie diese einerseits mit Videobrillen vor den Augen die Bewegungen eines zugeordneten Partners im jeweils anderen Raum imitieren und andererseits ihren realen Gegenüber schütteln, umarmen oder festhalten. Dazu gibt eine von Sängern verstärkte Computerstimme nicht nur Handlungsanweisungen, sondern auch etliche wiederholte Mantras. Man soll, so eines von diesen, nicht vergessen, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten.

Politische, soziale Forderungen wie diese mögen nötig sein, und Schuberts Experiment bietet jenen, die mitmachen, durchaus intensive Gefühlsmomente. Von außen betrachtet, ist das „Circle“-Projekt insgesamt aber nur so etwas wie eine lichte, spielerische Gegenposition zu dem vielen sehr Ernsten, Tiefsinnigen und Schweren, das Neue Musik sonst oft ausmacht. So kann man es nehmen, und das Ziel ist hehr: Zieht euch nicht zurück in die Nische, lautet dieses, kommt raus, atmet, sprecht, singt, kommuniziert, biegt den neobiedermeierlichen Rückzug ins Private wieder um in Gemeinsinn! Dieser Appell ist anzuerkennen und ernst zu nehmen – auch wenn der Zweck am Ende weder alle bescheidenen Mittel heiligt noch immer das Fehlen von Musik aufwiegt.

Tatsächlich war das Eröffnungskonzert mit Preisträger-Werken des Kompositionspreises der Stadt Stuttgart dazu angetan, die Sehnsucht nach Aktionen jenseits der Musik zu wecken. In Ondrej Adámeks „ça tourne ça bloque“ erschöpft sich der Versuch, Sprache mit musikalischen Mitteln (rhythmisch, melodisch, klanglich) nachzuformen, nach wenigen Minuten, dauert aber deutlich länger. Und Ole Hübners „Drei Menschen, im Hintergrund Hochhäuser und Palmen und links das Meer“ hat neben seinem netten Titel kaum mehr zu bieten als jugendlich-unbedarftes, naives musikalisches „Scene painting“, also eine Klangausstattung der Bühne. Oft klingt diese schlicht so, als flaniere man an den geöffneten Fenstern einer mit übenden Studenten voll besetzten Musikhochschule vorbei. Oder manchmal auch an mit dickem, plakativem Pinselstrich erstellter Malerei. Preiswürdig ist das eigentlich nicht.