Eine Welle der Überlastung rollt auf die Polizei zu. Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Bei so vielen Demonstrationen und Protesten in der Stadt könnte auch die Polizei mal zu einer Großkundgebung in eigener Sache aufrufen, meint unser Kommentator Wolf-Dieter Obst.

Stuttgart - Und wann geht die Polizei auf die Barrikaden? Bei so vielen Demonstrationen und Protesten in der Stadt müsste diese Gruppe nicht nur danebenstehen. Die Beamten hätten selbst reichlich Grund, jene Missstände anzuprangern, die ihr die Politik aufbürdet. Still leidet man unter fast zwei Millionen Überstunden landesweit, in Stuttgart ist von 162 000 Stunden die Rede. Doch es gibt keine lauten Klagen. Sorgen äußert man nur hinter vorgehaltener Hand.

Früher war das anders. Da konnte die Polizei auch Großdemo. 8000 Demonstranten auf dem Schlossplatz, Beamte in Zivil und in Uniform, die lautstark die Abwahl der Landesregierung fordern. Mit Transparenten wie: „Bürgerangst vor Verbrechen ist berechtigt!“ Und: „CDU Totengräber der inneren Sicherheit!“ Oder: „Vergewaltigung, Bankraub, Einbruch – keiner kommt?“ So war das, im Dezember 1991, als die Beamten noch öffentlich für eine Aufwertung ihrer Arbeit und eine Laufbahnreform ohne untere Dienstgruppe stritten. Es war der Anfang vom Ende einer jahrzehntelangen CDU-Alleinregierung im Land.

Anzeigen werden offenbar oft nur verwaltet

War das alles übertrieben? Typische Gewerkschaftspropaganda? Heute scheint alles ruhiger. Doch ist auch alles besser geworden? Eher nicht. Seither sind in der Stadt viele Reviere dichtgemacht worden, das sollte mehr Polizisten auf die Straße bringen, die Präsenz verstärken. Die Personallücken werden trotzdem größer, die Pensionierungswelle ist mächtiger als der zu spät gestartete Zufluss von Nachwuchskräften. Es wurde zentralisiert und verschlankt. Ein Stuttgarter Revier ist heute größer, aber für mehrere Stadtbezirke gleichzeitig zuständig. Man solle lieber nicht fragen, heißt es, wie viele Streifenbesatzungen tatsächlich unterwegs sind.

Hinter vorgehaltener Hand geben Beamte zu, dass Anzeigen oft nur verwaltet werden können. Kein Wunder, bei einem Stapel von Fällen. Da kann nicht unbedingt jede Individualnummer einer gestohlenen Luxusuhr mühsam per Verkaufswegeermittlung festgestellt werden, um sie dann korrekt ins Fahndungssystem einzugeben. Das ist vor allem dann fatal, wenn man einen Täter mit einem Beutestück erwischt, das aber nicht als gestohlen gemeldet ist. Einen Serieneinbrecher, der an Autobahnen Wohnmobile plünderte, ließ man wieder laufen, weil die eine Polizei nichts von den Ermittlungen der anderen wusste.

Aber für Chemnitz ist noch Luft nach oben

Und dann die vielen Veranstaltungen. Antifa-Demo, Weindorf-Bewachung, Antiterror-Großübung im Hauptbahnhof, Großdemo gegen rechts – und demnächst das Cannstatter Volksfest. Land unter. Da muss man sich fragen, warum die Polizei noch immer einen riesigen Aufwand für den Profifußball leisten muss – haben die Vereine kein Geld für mehr private Sicherheitskräfte? Baden-Württemberg liegt bei der Polizeidichte bundesweit ohnehin am Tabellenende. Doch als ob es nicht schon genug Überlastung gäbe, tut man so, als gäbe es Luft nach oben. Warum, bitte sehr, musste eine Einsatzhundertschaft aus Göppingen auch noch drei Tage in Chemnitz zur Aushilfe ran?

Vielleicht ist das ja ein Alarmsignal: Es gibt gerade weniger Bewerber als Lehrstellen für den Polizeiberuf. Ausbildungsplätze sind aktuell leer geblieben. Wann geht die Polizei auf die Barrikaden? Eine Demo mit 8000 Beamten auf dem Schlossplatz wie 1991 wird es vorerst wohl nicht geben. Zu viel zu tun. Keine Zeit.

wolf-dieter.obst@stzn.de