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Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko kämpft für seine Wiederwahl – und gegen einen Komiker. Ist der wachsende Populismus im Land ein Zeichen für fehlendes politisches Bewusstsein?

Kiew - Jetzt hilft nur der liebe Gott. Gott, der die Ukraine beschützen möge. Vor Krieg, vor Aggression, vor Moskau. Petro Poroschenko hat sein Wahlvolk an diesem Abend lange warten lassen, bevor er Gott zu Hilfe nimmt. Die Menschen hörten gesungene Gebete, markige Worte von Veteranen und salbungsvolle von der Moderatorin auf der Bühne. Über kluge, starke, zusammenstehende Ukrainer, deren Weg vorgezeichnet sei – in Richtung Europa.

 

Tausende sind zur Stadtverwaltung in Winnyzja gekommen, dieser noch im Mittelalter gegründeten Stadt, 250 Kilometer südwestlich von Kiew. „Büchlein“ nennen sie das bombastische Gebäude aus der Sowjetzeit hier, weil die beiden Flügel wie ein aufgeschlagenes Buch aussehen. Poroschenko nimmt ein Bad in der Menge, schüttelt Hände, lässt sich fotografieren. Jemand fährt ihm mit einem Lippenstift über die rechte Wange. Der rote Strich wird ihn bei seinem einstündigen Auftritt am „Büchlein“ begleiten. Einem Auftritt voller scharfer nationalistischer Töne, die seinen Verdienst der vergangenen fünf Jahre als Präsident zusammenfassen sollen.

Viele sind enttäuscht über die verschleppten Reformen

„Armee, Sprache, Glaube – das ist die ukrainische Identität“, ruft Poroschenko in die Menge. Das ist sein Spruch, mit dem er für weitere fünf Jahre im Amt kämpft. Damit verkauft er sich als Stabilitätslieferant, als einer, der sein Land im Westen populär macht. Er hat die einst marode Armee reformiert, er trat für die Stärkung der ukrainischen Sprache ein, er kämpfte für die Eigenständigkeit der Landeskirche. Wie ein Prediger ging er auf Stimmenfang in den Gotteshäusern des Landes. Stimmen, die er bitter nötig hat, wenn er am Sonntag wiedergewählt werden will.

Fünf Jahre nach der Revolution auf dem Kiewer Maidan sind viele Menschen enttäuscht über die verschleppten Reformen, zermürbt vom Krieg im Osten ihres Landes, von der allgegenwärtigen Korruption. Sie misstrauen der Politik. An die 40 Prozent der etwa 30 Millionen Wähler wissen Umfragen zufolge noch nicht, für wen sie am Sonntag stimmen wollen. 39 Kandidaten gibt es, der Wahlzettel ist knapp 80 Zentimeter lang.

„Rational betrachtet ist Poroschenko der angemessenste Kandidat“

„Glauben Sie daran, dass wir die Armut bekämpfen, dass die Ukraine wirtschaftliche Stabilität erreichen wird. Glauben Sie daran!“, ruft Poroschenko. Die Menge schwenkt lila Fähnchen. Winnyzja ist die politische Heimat Poroschenkos. Hier wurde er das, was er ist: ein Politiker, der auch gern Geschäftsmann ist. Hier machte er sein Geld mit seinem Süßwarenimperium Roshen. In seinen drei Fabriken finden viele Menschen Arbeit. Die Uferstraße am Fluss Südlicher Bug, der riesige Springbrunnen darin, selbst die Spielplätze in der Stadt tragen den Namen Roshen. An den Bushaltestellen sprechen die Alten über Poroschenko, in den Cafés diskutieren die Jungen über Poroschenko. „Er ist unser Mann“, heißt es vor dem „Büchlein“.

„Rational betrachtet ist Poroschenko der angemessenste Kandidat, mag er bei Weitem auch nicht ideal sein“, sagt Juri Temirow in seinem Unibüro unweit der Kathedrale von Winnyzja. Einst hatte der Historiker in Donezk unterrichtet. Dann kamen die Separatisten, es kam der Krieg. Mitsamt seiner Fakultät war Temirow nach Winnyzja gezogen, in diese quirlige Stadt mit 400 000 Einwohnern. „Hier bekamen wir Räume, wenn auch recht morsche, und Unterstützung. Doch es schmerzt, weil wir so viel verloren haben. Die Labors, die Bibliotheken.“ Zwei Fakultäten der Donezk-Universität sind mittlerweile in Winnyzja, 5000 Studenten studieren hier Geschichte, Internationale Beziehungen, Jura. 18 wissenschaftliche Einrichtungen haben die besetzten Gebiete in den Regionen Donezk und Lugansk und auf der von Russland annektierten Krim verlassen. „Wir arbeiten an der Wiedergeburt unserer Uni, da bleibt wenig Zeit, wehmütige Gedanken an die Heimat zuzulassen“, sagt Temirow.

Historiker kritisieren die unterentwickelte politische Kultur

An den Wänden in dem dreistöckigen Gebäude hängen Bilder von Studenten und Dozenten, die im Donbass gekämpft haben. Zwei Studenten kämpfen immer noch dort, erhalten ihre Aufgaben online, kommen zu Prüfungen nach Winnyzja. Temirow rügt die „kollektivistisch-paternalistische Haltung“ vieler Ukrainer. Sie sei die Grundlage für Populismus. Dafür, dass ein Komiker wie Wladimir Selenski, ein Polit-Neuling mit Witz, aber ohne klares Programm, bei Umfragen auf Platz eins landet. Dafür, dass Julia Timoschenko, die die Halbierung von Gaspreisen verspricht, einmal dicht vor Poroschenko liegt, einmal knapp hinter ihm.

„Die Hauptgefahr in unserem Land ist nicht die Korruption“, meint Temirow, „sondern die unterentwickelte politische Kultur“. Es gebe wenig Bewusstsein dafür, dass der Staat zwar gute Bedingungen für die Selbstentfaltung der Menschen schaffen müsse, für sein Leben verantwortlich sei man aber selbst. Politik der kleinen Schritte – Switlana Jarowa würde nicken. Früh hatte sie begriffen, dass nichts ohne Engagement geht. Die heute 27-Jährige wurde vor drei Jahren die jüngste Stadtabgeordnete von Winnyzja, für eine Partei, die eher ein Zusammenschluss von Initiativen ist. Die Eltern sahen eine Richterin in ihr, Switlana Jarowa studierte Jura. Doch sie wollte reisen, die Welt sehen. Dann aber war ihr Land im Umbruch, es war plötzlich vieles möglich, auch dass eine sehr junge Frau in der städtischen Politik mitmischt. „Ich war so skeptisch, dachte, alle Politiker seien korrupt, dass man untergeht in dieser Welt“, erzählt sie im hippen Jugendzentrum „Quadrat“ mitten in der Stadt: „Doch die Menschen wählten mich, sie vertrauten mir. Ich sah, dass man sie Schritt für Schritt mitreißen kann.“ Es ist ein Stück weit ihr Projekt, eine bunte Kreativ-Zone mit 3-D-Druckern, einem Tonstudio, Co-Working-Plätzen, einem Vortragsraum, wo ein paar Jugendliche auf bunten Sitzsäcken einem Film auf Englisch lauschen.

Der Zuspruch für den Komiker Selenski ist groß

Jarowa und ihre Mitstreiter haben für Projektgelder gekämpft, haben aus einem verlassenen und zugemüllten Keller 600 Quadratmeter offenen Raum geschaffen, wo junge Menschen sich ausprobieren können. Vor drei Monaten haben sie Eröffnung gefeiert. Es gibt Konzerte, Vorträge, Ausstellungen, Start-ups können hier ihre Projekte besprechen, Jugendliche auch einmal für die Hausaufgaben recherchieren. Finanziert wird „Quadrat“ von der Kreisverwaltung. „Wir müssen mehr für die politische Bildung der Jugend tun. Ihr erklären, welche politischen Institutionen wofür verantwortlich sind, welche Aufgaben der Präsident und das Parlament haben“, sagt Jarowa: „Damit der Populismus nicht so um sich greift.“

Der Zuspruch für den Komiker Selenski macht der 27-Jährigen Angst: „Er ist das Ergebnis abwesenden politischen Bewusstseins in unserem Land und soll doch lieber lustige Serien produzieren. Das kann er gut.“ Als Präsidenten wünsche sie sich einen „sattelfesten Menschen – einen Menschen wie Poroschenko“. Winnyzja steht hinter seinem Schoko-König – auch wenn am Rande von Poroschenkos Rede am „Büchlein“ einige Ultrarechte Steine und Flaschen auf Polizisten werfen.