Das Team der Wasenboje steht vor dem Container. Sie wollen eine möglichst kleine Hemmschwelle für Frauen, um Hilfe zu bitten. Foto: Jana Gäng

20 Jahre nach München hat auch Stuttgarts größtes Volksfest einen Safe Space für Frauen. Wer nutzt den eigentlich? Eine Nachtschicht mit Vermisstenfall, Belästigungen, verständnislosen Männern und Frauen, die einfach nur Ruhe wollen.

Irgendetwas hat dieser Container an sich. Nebenan dröhnt die Stimme der Schießbudenbesitzerin wie zwanzig Jahre Zigaretten: „Letzter Schuss, letzte Gelegenheit“, tausendfach verstärkt und verzerrt von den Lautsprechern. Und doch werden inmitten des Wasengetümmels viele der Besucherinnen und Besucher ausgerechnet an diesem dunkelblauen Container langsamer. Dann wandert ihr Blick von den Frauen im blauen Kapuzenpulli über den Stehtisch mit Flyern zum Poster neben der Tür: „Wasenboje Stuttgart“.

Vielleicht liegt es gerade daran, dass hier nichts blinkt und kreischt und duftet, Ruhe kommt auf dem Volksfest unerwartet. „Darf ich mich kurz setzen?“, fragt eine Frau mit langen Locken und lässt sich auf einen der drei Stühle vor dem Container fallen. Sie zieht die Knie an und beobachtet für eine Weile den Strom schlendernder und torkelnder Menschen mit Eis und Brathähnchen-Hut, mit Dirndl und Lederhosen am Samstagabend des Abschlusswochenendes.

Rund 100 Fälle ist die Zwischenbilanz

Zugegeben, manchmal ist es auch bloß eine Verwechslung: „Sind das die Klos?“, lallt ein Mann – eine Frage, die noch andere im Laufe des Abends stellen werden. „Nein, hier ist ein Safe Space für Mädchen und Frauen“, antwortet Milena Schalk geduldig und zeigt ihm den Weg Richtung Toilette. Die 23-Jährige ist eine der sechs Ehrenamtlichen in dieser Schicht.

Zum ersten Mal hat die Stadt Stuttgart mit der Wasenboje auf dem Cannstatter Volksfest einen Rückzugsort für Menschen geschaffen, die sich als Frau identifizieren und die sich belästigt oder unwohl fühlen. So genau will das Franziska Haase-Flaig von der Abteilung für Chancengleichheit der Stadt nicht definieren. Es soll ein offener Raum sein. Rund 100 Fälle hatten sie nach 1,5 Wochen – mehr als erwartet. Wer kommt hierher?

55 Frauen arbeiten ehrenamtlich für die Wasenboje

Es ist Samstag, 21:30 Uhr und die Abendschicht läuft seit drei Stunden. Bis ein Uhr wird das Team hier sein, mindestens. Adriana Laurenzano und Milena Schalk sitzen im Container. Der Tisch neben ihnen ist zugestellt mit Funkgeräten, Flyern von Hilfseinrichtungen und Beratungen, Binden, Tampons, Deo, Taschentüchern und Snacks. Sogar eine Lichterkette und zwei kleine Topfpflanzen gibt es. Auf einer der Herdplatten hat jemand Tee gekocht. Noch ist es ruhig, nur einige Orientierungslose auf der Suche nach dem Ausgang haben angehalten.

Der Container der Wasenboje ist ein Rückzugsraum inmitten des Wasen-Wahnsinns. Foto: dpa//Bernd Weißbrod

Die vier anderen aus dem Team stehen vor der Tür, lachen miteinander. „Wir haben alle einen ähnlichen Hintergrund, da gibt es gemeinsame Themen“, sagt Schalk. Sie studiert Soziale Arbeit, Laurenzano Psychologie. Sinje Barteldres ist Sozialarbeiterin in einer Unterkunft für Geflüchtete, Hanna Lindemann studiert Soziale Arbeit. Dann sind da noch die beiden Fachfrauen, wie sie sie hier nennen: Linda und Gabriele. Beide wollen ihre Nachnamen nicht in der Zeitung haben, sie duzen sich ja auch alle hier. Alle der 55 Ehrenamtlichen im Wasenbojen-Team haben Fachkenntnisse, aber zwei in jeder Schicht bereits mehrere Jahre Berufserfahrung.

Die Kinder der Betrunkenen müssen ins Schutzheim

An der Schießbude drüben läuft jetzt „Flowers“. Miley Cyrus singt in dem Lied darüber, wie gut sie auch ohne Partner klarkommt. „Das könnten sie doch öfter spielen“, sagt Milena und tanzt für einige Sekunden mit, als sich ein Kopf durch die Containertür beugt.

„Hallo, Kolleginnen“, sagt die Frau vom Krisennotfalldienst – einer der auf dem Gelände präsenten Dienste, mit dem die Wasenboje ebenso wie mit Wasenwache und Rotem Kreuz zusammenarbeitet. Inzwischen ist es 22.25 Uhr und eine Besucherin so betrunken, dass sie sich nicht mehr um ihre beiden Kinder kümmern kann. Vier und sechs Jahre sind die alt, nun sollen sie für die Nacht in ein Schutzheim. Hanna und Sinje folgen der Frau zur Wasenwache.

Die Studierenden Milena Schalk (links) und Adriana Laurenzano arbeiten ehrenamtlich für die Wasenboje. Foto: Jana Gäng

Kurz darauf stehen zwei junge Frauen vor der Tür, vielleicht sind es auch Mädchen. Sie gehen hier behutsam mit den persönlichen Daten der Frauen um, schirmen sie ab, verraten nie zu viel. Die geflochtenen Zöpfe einer der beiden fallen lang über den schwarzen Kapuzenpulli, sie spricht leise: „Meiner Freundin geht es nicht gut, können wir uns kurz setzen?“

Milena führt sie in den abgetrennten Ruheraum des kleinen Containers. Eine Liege steht darin. Darauf bunte Decken, ein Kuschelfuchs auf einem Stuhl, eine Topfpalme und ein Stern am Fenstergriff – versuchte Gemütlichkeit. Milena schließt die Tür.

Diebe haben den jungen Frauen Handy und Geldbeutel gestohlen

Keine fünf Minuten dauert es bis zum nächsten Fall. Wieder sind es zwei junge Frauen, eine Beamtin der Wasenwache ist bei ihnen: „Den Damen wurden die Handtaschen geklaut, Anzeige ist aufgegeben.“ Geldbeutel, Handy, alles sei weg. Telefonnummern kennen die beiden auch keine, sie wohnen rund 80 Kilometer entfernt. Ihre Augen sind verweint, eine hält sich über dem schwarzen Teddyfell-Mantel selbst umklammert.

„Wir schließen eine Lücke in der bisherigen Versorgung“, sagt Linda: „Bei der Polizei ist alles angegeben, aber was jetzt? Wie kommen die beiden heim?“ Auch diesen Fall haben die Ehrenamtlichen in einer zweitägigen Schulung geübt. Im Container hängen Fahrzeiten der S-Bahnen und der Busse, die Rufnummer für ein Taxi, das von einer Frau gefahren wird. Im Notfall bezahle das die Stadt.

Seit Stunden wird eine junge Frau vermisst

Auch die nächste Frau im hellblauen Dirndl sieht sehr jung aus. „Meine Freundin ist seit Stunden weg und sie kommt nicht von hier“, sagt sie. Das Wort „Belästigung“ fällt. Das Team stellt sich schützend vor sie. Dann bringt Sinje sie zur Wasenwache, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben.

Wenig später rauscht das Funkgerät im Container. Die Vermisste ist älter als 18 Jahre. In solchen Fällen sucht die Polizei erst nach 24 Stunden. Und nun? Linda und Gabriele stecken die Köpfe zusammen. „Habt ihr eine Telefonnummer von der Mutter?“, fragt Gabriele. Sie schicken Hanna zur Unterstützung.

Später wird die junge Frau am S-Bahnhof auftauchen. Sie hat eine fremde Frau angesprochen und sich über deren Instagram-Account gemeldet, ihr eigenes Handy ist bei einer der Freundinnen.

„Ist denen Party wichtiger als Sicherheit?“

Es ist ein Fall, der Sinje wütend macht, wie sie sagt: „Wir haben im Festzelt gefragt, ob wir die Freundin ausrufen lassen dürfen. Aber die Security hat sich geweigert. Erst kurz vor Schluss haben sie dann zugestimmt, aber da waren viele schon weg – was bringt das noch? Ist denen Party wichtiger als Sicherheit?“

Auch auf dem Münchner Oktoberfest gibt es einen Safe Space. Nicht alle finden das gut, sagte ein Teammitglied dort in einem Interview – weil es ein schlechtes Licht auf die Veranstaltung werfe. In Stuttgart loben sie die Zusammenarbeit mit den Veranstaltern: „Wir haben einen guten Standort bekommen. Die Wirte haben alle unsere Flyer ausgelegt, zwei auch unsere Videos in den Zelten abgespielt“, sagt Haase-Flaig. „Gibt ja keinen Grund, das nicht zu unterstützen“, sagt Göckelesmaier-Wirt Karl Maier bloß.

Der Mann küsste sie ungefragt im Zelt

Die meisten sehen das so, sagt Haase-Flaig, fast alle Rückmeldungen seien positiv. Auch an diesem Abend bleiben Frauen stehen, weil sie sich bedanken wollen. Für die Hilfe zuvor, andere einfach so. Auch wenn viele die Wasenboje noch nicht kennen – wer auf dem Festgelände Frauen fragt, hört an diesem Abend ausschließlich, dass es eine gute Sache sei.

„Als Frau musst du auf dem Wasen immer aufpassen. Ganz ehrlich, wir brauchen einen sicheren Ort. Manche Männer hier meinen, die können alles mit dir machen. Die fassen dich gleich an, wenn sie mir dir sprechen“, sagt Sabrina, eine Besucherin, die anonym bleiben will. Am Sonntag zum Wasenstart habe sie ein fremder Mann im Festzelt einfach geküsst. Sie habe ihm dann eine Ohrfeige gegeben.

Mehr Anzeigen wegen sexueller Belästigung

„Klar, du hast ja einen Ausschnitt an, da darf man das ja“, schnaubt Jessy. Die 18-Jährige stand allein vor dem Zelt, deshalb hat Sabrina sie angesprochen: „Von Frau zu Frau. Um zu fragen, ob alles okay ist.“ Viele Besucherinnen sagen, dass sie sich sicher fühlen, nie belästigt worden seien, dass sie sich wehren können. Und doch haben sie sich fast alle Regeln auferlegt. Nicht allein auf den Wasen gehen. Bescheid geben, wenn man angekommen ist. Nicht mehr ins Zelt gehen.

41 Fälle von sexueller Belästigung sind in diesem Jahr auf dem Cannstatter Volksfest bei der Polizei angezeigt worden. Oft seien es Grabscher, an Brust, Po, einmal auch in den Schritt, sagt Polizeisprecher Jens Lauer. Auch „Upskirting“ ist ein Thema. Selbst wenn es mehr Besucher waren, sind es laut Lauer im Verhältnis mehr Fälle als im Vorjahr: „Wir glauben, dass Frauen die Grabscher eher anzeigen. Gut so.“

In Stuttgart kommt der Safe Space 20 Jahre später als in München

Auch Gabriele von der Wasenboje hat das Gefühl, dass sich gerade etwas tut: „Früher hätten wir vielleicht gesagt: So sind die Männer eben. Aber die jungen Frauen heute sind cooler und selbstbewusster, die lassen sich nicht alles gefallen“, sagt die 61-Jährige.

Die Aufbruchsstimmung merken auch die Betreiber und Behörden. In diesem Jahr hat die Stuttgarter Polizei eine Präventions- und Sensibilisierungskampagne vor dem Wasen gestartet. Aus einer Strategierunde auf Einladung der kommunalen Kriminalprävention zur Sicherheit von Frauen in der Stadt ist die Wasenboje entstanden. Warum gerade jetzt und vor allem erst jetzt – in München gibt es die „Sichere Wiesn“ bereits seit 2003 –, kann auch Franziska Haase-Flaig nicht sagen. Sie überlegt: „Ich denke, es ist einfach an der Zeit.“

Sexismus und Wasen, das gehört zusammen“

Überall angekommen ist ohnehin weder das neue Selbstbewusstsein noch das Bewusstsein über ein Sexismus-Problem, das größer ist als Einzelfälle. „Da habe ich noch nie drüber nachgedacht“, sagt ein Mann in Daunenjacke, als Linda ihm den Zweck des Containers erklärt. „Das kann man sich als Frau gar nicht vorstellen“, sagt sie hinterher und ist doch froh über jeden, der anhält und nachfragt. Und so muss auch Jens Lauer zum Ende des Telefongesprächs wieder den Standardsatz beim Thema sexuelle Gewalt auf dem Wasen sagen: „Die Dunkelziffer ist weiterhin hoch.“

„Sexismus und Wasen, das gehört immer noch zusammen“, sagt auch Hanna. Eben hat sie wieder mitgewippt, als inzwischen zum dritten Mal „Flowers“ von drüben in den Container schallte. Aber bei dem Thema kann sie sich in Rage reden: „Das ist hier der Worst Case für eine Frau. Überall Betrunkene, ist ja quasi das Business. Und dann sind noch viele Männer da.“ Es helfe ihr, dass sie aktiv etwas dagegen tue.

Polizei bringt drei Frauen, die belästigt worden sind

Sexuelle Belästigung und Nötigung machen aber nicht die Mehrheit unserer Fälle bei der Wasenboje aus“, sagt Franziska Haase-Flaig. Auch in dieser Schicht ist das so. Viele Frauen wollen sich nur für ein paar Minuten auf einem der Stühle ausruhen, andere laden den Handy-Akku im Container auf, suchen den Ausgang und stecken noch einen Flyer oder ein paar kostenlose Kondome ein. Eine Frau bläst Hanna den Rauch ihrer Zigarette ins Gesicht, sie will reden: „Geht um meinen Ex“, sagt sie.

Um 23.34 Uhr bringt die Polizei aber doch noch drei junge Frauen im Dirndl zum Container, die belästigt worden sind. Im Kreis besprechen sie, was vorgefallen ist. Dann begleitet Gabriele zwei von ihnen zur Toilette. Linda schließt hinter der Dritten die Containertür.

„Bei uns geht es darum, Lösungen für diesen Abend zu finden“, erklärt Gabriele später. Sie versuchen, belästigte Frauen zu stabilisieren, bringen sie zur Bahn, rufen ein Taxi für sie und geben ihnen Infomaterial mit, an wen sie sich jetzt wenden können. „Aber wir arbeiten nur akut, wir sind keine Beratungsstelle.“

Manche Frauen halten auch nur kurz an, um sich auszuruhen oder einen der Flyer mitzunehmen. Foto: dpa/Bernd Weißbrod

Als die Helfer des Roten Kreuzes kurz vor Mitternacht am Container Halt machen, ist ihre Trage mit der wärmenden Folie bereits leer. „Wir haben überlegt, ob wir den Mann zu euch bringen können, haben wir dann aber gelassen“, sagt einer. „Wenn sich der Raum für Frauen sicher anfühlen soll, kann hier kein Mann liegen“, sagt Gabriele später.

Männer sind genervt vom Safe Space

Auch wenn das manche nerve. „In jeder meiner Schichten kam hier mindestens ein Mann vorbei, der das unfair findet“, sagt Milena. Was denn mit ihnen sei, würden diese Männer dann fragen. Das Team nehme das ernst, will besprechen, ob es im nächsten Jahr einen weiteren Raum geben sollte. „Hast du schon gesagt, dass wir hier keinen Mann einfach wegschicken, sondern die weitervermitteln“, fragt Hanna. Und dann: „Die könnten aber auch mal fragen, warum es so einen Raum für Frauen braucht.“

Es ist kurz nach 0 Uhr, bei der Dosenwurfbude gegenüber ist längst der Laden unten, auch „Süßer Himmel“ hat die Lichter ausgeschaltet. Es ist jetzt dunkler auf dem Platz. Im Container dokumentiert das Team die Fälle des Abends auf Papierbögen.

Das Team bleibt auch dann noch vor Ort, wenn Festzelte und Buden längst geschlossen haben. Foto: Jana Gäng

Die drei Jugendlichen draußen haben sich untergehakt, bleiben kurz stehen. „Das ist dieser Safe Space“, ruft eine von ihnen. Freundschaftlich rempelt sie den jungen Mann neben sich an: „Aber hast du überhaupt eine Ahnung, was das ist?“