Noch bis zum Ende der Sommerferien ist die S-Bahn-Stammstrecke in Stuttgart gesperrt – es verkehren keine Züge. Doch was geschieht eigentlich im Tunnel zwischen Hauptbahnhof und Österfeld? Ein Einblick.
Wo sich sonst täglich Tausende von Fahrgästen tummeln, herrscht derzeit gähnende Leere. Bereits am Treppenabgang wird hinter den verschlossenen Türen deutlich, dass die Haltestelle Schwabstraße außer Betrieb ist. Anstatt wie üblich bequem mit der Rolltreppe führt der Weg hinab ausschließlich über die lange Treppe, auf den Bänken am Bahnsteig tummeln sich lediglich einige Arbeiter in ihrer Pause. Noch bis zum 9. September ist die Stammstrecke der S-Bahn vom Stuttgarter Hauptbahnhof bis Österfeld gesperrt. „Wir stellen derzeit die Weichen für die Digitalisierung der Bahn in Stuttgart“, erklärt Christian Boffini, der Teamleiter für die Tunnelnachrüstung der DB-Projekt Stuttgart-Ulm GmbH.
Eigene Bewetterungsanlage
Wenigstens ist die Luft zur großen Überraschung angenehm. Während an der Oberfläche in der City die Menschen unter der schwülen Sommerhitze leiden, weht unter der Schwabstraße im Schummerlicht ein kühles Lüftchen. Möglich macht dies „eine ausgeklügelte Bewetterungsanlage“, sagt Boffini. Die Sicherheit der Arbeiter stehe an erster Stelle, daher sei eine Vollsperrung auch unausweichlich. Mit großen Ventilatoren, unter anderem einem am Feuersee und zwei weiteren am Hauptbahnhof sowie vielen weiteren kleineren Geräten wird das Klima geregelt. Während der Bautätigkeit ist die Leitzentrale rund um die Uhr besetzt – 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. So kann bei Veränderungen per Knopfdruck reagiert werden.
Die Sicherheitsanforderungen bekommen die Besucher am eigenen Leib zu spüren. Neben Sicherheitsschuhen, Bauhelm und Warnweste bekommt jeder einen eigenen GPS-Tracker in die Hand gedrückt, sodass er im Notfall auch gefunden werden kann. Zum Konzept zählt auch die Sicherheitseinweisung, die auf Notrufsäulen und digitale Richtungsweiser zu den Sammelplätzen verweist.
Bis zu fünf Kilometer Kabel auf einer Trommel
Doch wer ansonsten computergesteuerte Technik oder gar künstliche Intelligenz in den alten Röhren, die 1978 in Betrieb genommen wurden, finden will, sucht vergeblich. Vielmehr ist Knochenarbeit gefragt. Die insgesamt rund 400 Arbeiter mussten entlang der 8,5 Kilometer langen Strecke zunächst auf den kleinen Trassen am Tunnelrand die rund 20 mal 20 Zentimeter großen Betondeckel über dem Kabelkanal anheben – per Hand. „Jede davon wiegt 38 Kilo“, betont Jacob Frölich, der Projektleiter der ausführenden Baufirma Leonhard Weiss. Auf beiden Seiten und teilweise doppelten Tunnelröhren eine Gesamtstrecke von rund 30 Kilometern.
Erst im Anschluss können die neue Kabelstränge angeliefert werden. Dies erfolgt wie alles vom Lagerplatz am Nordbahnhof aus über die Schiene. Das Gleisarbeitsfahrzeug – kurz GAF genannt – führt die maximal 2,7 Tonnen schweren Trommeln auf einem kleinen Lader vor sich her bis zur gewünschten Stelle. Mit dem am Gefährt installierten kleinen Kran wird diese angehoben und von zehn Kabelziehern dann mit purer Manneskraft abgerollt und verlegt. Je nach Stärke der Leitungen reicht dies für eine Strecke von 500 Metern bis fünf Kilometern. Insgesamt werden laut Deutscher Bahn rund 100 Kilometer neue Kabel verlegt.
Bahn erhofft sich 20 Prozent mehr Züge durch neue Technik
Die Vorgaben an das Material sind sehr unterschiedlich. Die beinahe faustdicken Stromkabel versorgen die alle 15 Meter an den Wänden angebrachte neue Beleuchtung mit LED-Lampen. Zudem die sogenannten Elektranten, die die Stromversorgung für die Rettungskräfte im Ernstfall alle 105 Meter gewährleistet – beides zusammen rund 800 Stück. Parallel verlaufen die sehr viel dünneren Glasfaserkabel für die neue Sicherheitstechnik European Train Control System (ECTS). „Es sind verschiedenste Aufgaben, die bei der Nachrüstung der Stammstrecke zusammengefasst wurden“, sagt Biffoni. Insgesamt 16 verschiedene Abteilungen der Deutschen Bahn sind involviert.
Im Mittelpunkt steht aber die ECTS-Technik. Im laut Bahn europaweit einzigartigen Pilotprojekt wird der Digitale Knoten Stuttgart (DKS) ausgebaut. Dafür müssen alleine im innerstädtischen Tunnel 300 neue Achszähler und 130 Blockkennzeichen eingebaut werden. An den Haltstellen beträgt der Abstand lediglich 30 Meter. Durch die neu entwickelte Technik kann der Abstand der einzelnen Züge reduziert werden, sagt Biffoni. So könne die Stabilität und Leistungsfähigkeit des von sämtlichen Linien des Stuttgarter S-Bahn-Netzes befahrenen Innenstadttunnels deutlich gesteigert werden. „Um mindestens 20 Prozent“ heißt es von Seiten der Bahn.
Ab 11. September nächste Etappe in Bad Cannstatt und Untertürkheim
Bis dahin müssen die Fahrgäste aber noch einige Umwege in Kauf nehmen, nicht nur bis zum 9. September. Die Sperrung der Stammstrecke zwischen Hauptbahnhof und Österfeld ist bereits die dritte in Folge während der Sommerferien – und nicht die letzte. Auch in den kommenden zwei Jahren wird der Innenstadttunnel für den Umbau des Digitalen Knotens wieder blockiert sein, die neue Technik soll Ende 2025 in Betrieb gehen. Und auch in der Region gehen die Arbeiten weiter. Nach der Sperrung der Bahnstrecke zwischen Waiblingen und Bad Cannstatt setzt sich der Umbau vom 11. bis 29. September nahtlos im Bereich Bad Cannstatt und Untertürkheim fort. Auch hier wird es zu Einschränkungen und Sperrungen kommen.