Russische Soldaten patrouillieren in der Nähe von Sevastopol. Foto: dpa

Im Jahr 2008 kämpfte in Georgien eine russische Armee, die für den Westen nicht viel mehr als eine Trümmertruppe war. Heute verfügt Putin über moderne, flexible und schlagkräftige Truppen.

Im Jahr 2008 kämpfte in Georgien eine russische Armee, die für den Westen nicht viel mehr als eine Trümmertruppe war. Heute verfügt Putin über moderne, flexible und schlagkräftige Truppen.

Stuttgart - Fährmann Boris Tschubais starb ganz schnell: „Eine Hand legte sich auf meinen Mund, ich spürte irgendetwas Kaltes an meinen Hals – und da war ich auch schon tot“, erzählte der alte Seebär den Reportern der Lokalzeitung von Lazarev. Als er wundersam wieder zum Leben erweckt wurde, tuckerte seine kleine Fähre „Mir“ schon längst nach Osten. Der „Frieden“ dümpelte in Richtung der Insel Sachalin – gekapert von durchtrainierten Männern in Tarnuniformen und mit schallgedämpften Maschinenpistolen in den Händen. „Na Väterchen, ist alles wieder gut?“, habe einer der jungen Kerle grinsend den 54 Jahre alten Seemann gefragt. Er, berichtete Tschubais den Lokalreportern „mit Stolz in der Stimme“, habe augenzwinkernd geantwortet, er sei doch „gerne für Mütterchen Russland gefallen“.

Westliche Militäranalytiker waren gar nicht amüsiert darüber, was da zwischen dem 12. und 21. Juli des vergangenen Jahres im fernen Osten Russlands passierte: 160 000 Soldaten waren in mehr als 1000 Panzer gestiegen und auf 4500 Lastwagen geklettert, hatten sich in 130 Flugzeuge und Hubschrauber gesetzt und sich auf 70 Schiffen der russischen Pazifikflotte eingeschifft.

Mit der Übungsattacke russischer Spezialkräfte auf Boris Tschubais und seine Fähre „Mir“ begann eine „Übung, die es so weder in der neuesten russischen Zeit noch zuvor in der Sowjetzeit gegeben hat“, verkündete Präsident Wladmir Putin damals der Welt. Erst vier Tage vorher hatte das russische Staatsoberhaupt seinen Kommandeuren befohlen, ihre 3000 Kilometer weit entfernten Stützpunkte zu verlassen und im Osten des Landes aufzumarschieren. Zwei Tage Zeit hatte Putin den Befehlshabern gelassen, um an der Ostgrenze gefechtsbereit Stellung zu beziehen. „Die Besonderheit dieser Übung liegt darin: Wir sind rasend schnell aufmarschiert, ohne zu wissen, wohin es als Nächstes geht oder was wir als Nächstes machen sollen“, seufzte Panzergeneral Dimitri Manjukin.

Damals gingen westliche Analysten noch davon aus, das militärische Muskelspiel ziele darauf ab, China zu beeindrucken sowie Japan und Amerika abzuschrecken. „Mit dem Überraschungsangriff auf Sachalin soll eine mögliche Antwort auf einen hypothetischen Angriff japanischer und amerikanischer Streitkräfte simuliert werden“, erklärte Militärhistoriker Victor Davis Hanson von der angesehenen US-Denkfabrik Hoover Institute das Wehrtraining der Russen. Heute sind sich Wissenschaftler rund um den Globus sicher: Vieles von dem, was Putin im Juli 2013 im Osten seines Landes hatte üben lassen, wurde in den vergangenen Wochen auf der Krim angewendet.

„Lebt Putin in einer anderen Welt?“, fragt der niederländische Politikprofessor Rob de Wijk rhetorisch, um sich selbst die Antwort zu geben: „Nein. Europa, die Nato und der Westen laufen ihm immer nur hinterher: Vieles von dem, was sich in den vergangenen Jahren im russischen Militär getan hat, haben wir ignoriert, unterschätzt, kleingeredet und uns nicht vorstellen können.“

De Wijk, der die Westallianz berät, wenn die ihre Spezialkräfte einsetzen will, ist sich sicher: Putin kommandiert heute andere Streitkräfte als jene, mit denen er 2008 in Georgien kämpfte. Den Gesamtumfang der Armee hat der Kremlchef von 1,13 Millionen Soldaten auf eine Million reduziert. Die Zahl der Reservisten ist von 20 Millionen auf 700 000 geschrumpft. Statt schwerfällig agierender Division sind die Soldaten in kleinen, hoch flexiblen Brigaden organisiert, die auch in Friedenszeiten vollständig besetzt, ausgebildet und ausgerüstet sind.

Heer, Luftwaffe und Marine agieren jetzt unter einem Befehl auf dem Schlachtfeld. Dazu ließ Putin vier strategische Kommandos im Westen, Osten und Süden des Landes sowie in Zentralrussland aufstellen. Deren Befehlshaber kommandieren sämtliche auf ihrem Gebiet stationierten Einheiten der Streitkräfte wie auch die des Innen- und Zivilschutzministeriums. Nur den Befehl über die strategischen Raketentruppen führt das Staatsoberhaupt noch selbst.

Allein im vergangenen Jahr ließ Putin seine Streitkräfte zu 50 Übungen ausrücken, von denen er die meisten überraschend ansetzte. So alarmierte er im März morgens um 4 Uhr aus seiner Präsidentenmaschine auf dem Rückflug vom Gipfel der Brics-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika in Durban im Militärbezirk Süd stationierten Truppen, Fallschirmjäger und Schwarzmeerflotte. Anderthalb Stunden später verließen 7000 Soldaten, 250 Panzer, 50 Haubitzen, 20 Kampfjets und Hubschrauber sowie 30 Schiffe ihre Basen.

Den Westen hatte Moskau über das Manöver nicht informiert. Denn daran seien lediglich 7000 Soldaten beteiligt, während das Abkommen über Vertrauens- und Sicherheitsförderung von 2011 nur dann die gegenseitige vorzeitige Benachrichtigung vorsehe, wenn an einem Manöver mehr als 9000 Soldaten teilnehmen, so Putin.. „Rein formell musste Russland zwar niemanden vorher darüber benachrichtigen, aber als Partner verhält man sich nicht so“, wetterte ein Sprecher der Nato, die offenbar nicht nur von den Russen über die Übung im Dunkeln gelassen worden war. Der damalige Sprecher des ukrainischen Außenministeriums, Jewgeni Perebejnos, berichtete, seine Regierung sei sechs Tage zuvor über das geplante Manöver benachrichtigt worden: „Ich denke nicht, dass dieses Manöver die ukrainischen Interessen gefährden könnte. Übungen werden regelmäßig durchgeführt – sowohl von der Ukraine als auch von Russland oder anderen Ländern.“

Ihre Lehren zogen die westlichen Krieger in ihrem Brüsseler Hauptquartier aus den zahlreichen Wehrertüchtigungen der russischen Streitkräfte nicht. Sie registrierten lediglich verwundert, dass Putin eigentlich mit 22 500 russischen und weißrussischen Soldaten in einem vorher angemeldeten Herbstmanöver an der Grenze zu den baltischen Staaten und zu Polen „die Abwehr von religiösen und ethnischen Unruhen sowie von terroristischen Attentaten“ üben lassen wollte. Doch dann mobilisierte der Präsident 70 000 Mann: Panzer- und Marineverbände, Flugzeugstaffeln und Luftlandetruppen übten für „Zapad (Westen) 2013“.

Die hochmoderne Bewaffnung der Russen weckte Sorgen bei ihren Nachbarn. „In Wirklichkeit üben die einen Angriff auf das Baltikum und Polen. Sie wollen uns einschüchtern, und das ist beunruhigend“, sorgte sich ein schwedischer Diplomat.Es habe zwar in dem Manöver auch Elemente aus der Terrorbekämpfung gegeben, doch das Hauptgewicht habe „auf offensiven Operationen gelegen“.

Professor Rob de Wijk stellt fest: „Spätestens ‚Zapad‘ hat gezeigt, dass Russlands Streitkräfte heute imstande sind, ihre modernen Truppen aus dem ganzen Land heranzuführen, zu einer mächtigen Faust zu ballen und in hoch komplexen Operationen zu führen“. In der, bei der Putin im Osten Russlands hatte trainieren lassen, wie die Krim besetzt wird, starb nur der Fährmann Boris Tschubais – übungshalber.