Hilfsmittel im Alter: In einigen Jahren werden technische Lösungen helfen, länger eigenständig zu leben, sagen Forscher voraus Foto: dpa

Blieb früher zwischen Renteneintritt und Tod nur wenige Zeit, werden zukünftige Rentner in Deutschland noch Jahre oder Jahrzehnte relativ gesund leben. Vermögen, Arbeit, Technik: 5 Thesen, wie der Ruhestand der Zukunft aussehen wird.

Stuttgart - Die grauen Herren aus Michael Endes berühmtem Roman „Momo“ wären schockiert, denn ihr Geschäftsmodell ist ruiniert. Mit dem Versprechen, Zeit zu sparen, überzeugen sie die Menschen, wie verrückt von einem Termin zum nächsten zu hetzen. Doch das ist heutzutage nicht mehr notwendig. Denn Lebenszeit gewinnen die Deutschen derzeit schlicht: durch Nichtstun. Und zwar sechs Stunden am Tag. So schnell steigt die Lebenserwartung statistisch gesehen an.

Ein Neugeborenes, das fünf Jahre später als ein anderes Baby geboren wird, hat schon eine 15 Monate höhere Lebenserwartung als das ältere Kind. Vor allem Menschen über 65 bessern die Statistik auf. Denn ihre Sterblichkeit sinkt rapide. Vor 50 Jahren erlebten von 100 Frauen im Alter von 80 Jahren elf den nächsten Geburtstag nicht mehr. Heute sind es nur noch vier. Quasi von allein wird das Leben länger. Michael Endes graue Herren können einpacken.

Mit den dazugewonnen Jahren verändert sich vor allem die zweite Lebenshälfte grundlegend. Im letzten Jahrhundert lagen oft nur wenige Jahre zwischen dem Ende des Arbeitens und dem Ende des Lebens. Heute bleiben dem Durchschnittsdeutschen beim Eintritt in den Ruhestand noch 15 bis 20 Lebensjahre. Wie werden Rentner diese Zeit in den kommenden Jahrzehnten erleben? Fünf Thesen zum Ruhestand der Zukunft.

Büro statt Bowling

Gesetzliches Renteneintrittsalter? Jürgen Deller winkt ab. Im Jahr 2050 wird dieser Begriff nur noch im Lexikon zu finden sein. Davon ist der Wirtschaftspsychologe überzeugt. Das Nachfolgemodell in Dellers Vision: der Rentenkorridor. „Zwischen dem 60. und 70. Lebensjahr wird jeder frei entscheiden können, wann er gehen will.“

Der Anteil der über 65-Jährigen, die arbeiten gehen, hat sich zwischen 2005 und 2014 mehr als verdoppelt. Deller, der an der Leuphana-Universität Lüneburg zur Arbeit im Alter forscht, geht davon aus, dass sich dieser Trend in Zukunft noch verstärken wird. Steigende Altersarmut sieht er dafür als zweitrangigen Grund. Wichtiger sei es, dass vielen der Alltag im Büro schlicht Spaß mache – sogar mehr als irgendwelche Freizeitaktivitäten wie Bowling. Für die meisten sei die Qualität der Arbeit in den letzten Jahrzehnten gestiegen, der Job spannender geworden.

Rechtlich ist es momentan aber noch nicht so einfach, länger zu arbeiten: Arbeitgeber sehen nach Dellers Erfahrung Risiken, wenn sie Verträge nach dem Renteneintritt weiterlaufen lassen – weil dann der Kündigungsgrund des Renteneintritts entfällt. „Hier brauchen wir Veränderungen“, sagt Deller. Er hofft, dass Ältere in Zukunft häufiger sozialversicherungspflichtig beschäftigt bleiben, um die Sozialkassen zu stärken. Derzeit arbeiten knapp 40 Prozent der 65- bis 69-Jährigen als Selbstständige oder mithelfende Familienangehörige.

Reihenhaus statt Rente

Die gute Nachricht zuerst: Ältere Menschen stehen im Schnitt finanziell nicht schlechter da als andere Altersgruppen. Das liest Laura Romeu Gordo vom Deutschen Zentrum für Altersfragen aus Daten des Deutschen Alterssurvey ab. Für die Studie werden regelmäßig rund 10 000 Menschen in der zweiten Lebenshälfte befragt. Zuletzt wurden 2014 neue Daten für das Survey erhoben.

Die schlechte Nachricht hingegen lautet: In Zukunft, so Romeu Gordos Prognose, wird die soziale Ungleichheit unter alten Menschen steigen. Die Gesetze zur Rentenreform und Riester-Rente um die Jahrtausendwende haben die Rahmenbedingungen verändert. „Die staatliche Rentenversicherung hat sich zurückgenommen“, sagt Romeu Gordo, stattdessen wurde private Vorsorge wichtiger – zum Beispiel in Form des Eigenheims, mit dem sich Besitzer im Alter die Miete sparen. „Gerade diejenigen, die wegen geringer Einkommen keine gute gesetzliche Rente haben, können sich aber ein Haus meist nicht leisten“, sagt Romeu Gordo. Weil Vermögen ungleich verteilt ist, wird die soziale Schere am Lebensende weiter aufgehen, sagt die Wissenschaftlerin voraus.

GPS statt Gitterbett, Freunde statt Familie

GPS statt Gitterbett

Eines bereitete Petra Gaugisch Kopfzerbrechen: Warum kehrte ihr Proband immer wieder an diese eine Stelle in seinem Heimatort zurück? „Ein Angehöriger hatte dann eine Idee: Es ist ein Ort, den der Proband von früher kennt“, sagt Gaugisch. Ursprünglich lag die Stelle außerhalb des festgelegten Bereichs, in dem sich der Teilnehmer nach eigener Einschätzung und der von Angehörigen gut auskennt. „Wir haben den Bewegungsraum dann um diese Stelle erweitert“, sagt Gaugisch. Jetzt schlägt der Sender nicht mehr Alarm, wenn der Forschungsteilnehmer unterwegs seinen Lieblingsort aufsucht.

Sich nie wieder verlaufen, nie mehr verwirrt den Weg nach Hause suchen: Diese Sicherheit will Petra Gaugisch Demenzkranken mit GPS-Tracking geben. Ob es funktioniert, testet sie aktuell mit älteren Menschen in einem Forschungsprojekt vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart. Verlassen die Teilnehmer den vorher definierten Bewegungsraum, alarmiert ein Sender die Angehörigen. „Dann kann jemand schnell hinfahren und schauen, ob mit dem älteren Menschen alles in Ordnung ist“, sagt Gaugisch. Die Sozialwissenschaftlerin ist überzeugt: „Technische Lösungen werden helfen, dass Menschen länger eigenständig im häuslichen Umfeld leben können.“

Medikamentenschachteln, die den Besitzer an seine Pillen erinnern, oder Sensoren, die das Licht ausschalten, wenn der Bewohner den Raum verlässt – erste Angebote, die alten Menschen das Leben erleichtern sollen, gibt es schon heute auf dem Markt.

Gaugisch ist aber überzeugt, dass Technik für Senioren in Zukunft nur dann erfolgreich sein wird, wenn sie in das Lebensumfeld eingebettet ist und tatsächlich Probleme löst – wie etwa beim GPS-Tracking für Demenzkranke. Zugleich sei bei solchen Modellen aber noch vieles offen. „Der Alarm muss ja irgendwo eingehen“, sagt Gaugisch. „Dahinter muss eine Kette von Angehörigen oder Dienstleistern stehen, damit es funktioniert.“ Wie können Pflegedienste mit solchen Angeboten Gewinn machen? Zahlt die Pflegekasse für die Technik? In den etablierten Pflegestrukturen sind neue Ansätze wie das GPS-Tracking noch nicht angekommen.

Freunde statt Familie

Sie werden vielfältiger, aber zum Teil auch fragiler – so lässt sich zusammenfassen, wie die Lebensformen älterer Menschen sich verändern. Für Prognosen über die zukünftige Rentnergeneration blicken Wissenschaftler auf die Gruppe der heute 40- bis 55-Jährigen. Diese Gruppe heiratet heute seltener als früher, zudem steigt der Anteil der Kinderlosen.

Für Laura Romeu Gordo vom Deutschen Zentrum für Altersfragen ist das zunächst kein Anlass zur Sorge. „Die Leute stehen gar nicht so allein da, wie es oft dargestellt wird.“ Denn Freunde würden wichtiger und sorgten häufiger für Rat und Trost – eine soziale Rolle, die früher eher die Familie einnahm. Partnerlose Männer allerdings stufen Wissenschaftler in diesem bunten Mix aus sozialen Netzwerken als Risikogruppe ein. „Denn meistens sind eher die Frauen vernetzt und bauen Kontakte auf“, sagt Romeu Gordo – und das gilt auch für Pärchen.

Die Gesetzgebung hinkt wie beim Arbeiten nach dem Ruhestand der Realität hinterher: Denn viele Regelungen im Alter – etwa, wer im Krankenhaus Auskunft erhält – sind nach wie vor auf Ehepaare und Familien zugeschnitten, aber kaum auf Freunde, die füreinander sorgen.

Gelassenheit statt Graus?

Gelassenheit statt Graus

Von „Silver Workers“ (Berufstätige mit grauen Haaren) bis „Active Aging“ (aktives Altern): Schlagworte wie diese suggerieren, dass der gesellschaftliche Blick auf alte Menschen sich wandelt. Romeu Gordo führt das vor allem auf eine pragmatische Einstellung zum demografischen Wandel zurück. Die Sicht auf Alte habe sich geändert, „weil die Gesellschaft sich sagt: Wir müssen das Beste aus der Überalterung machen“. Das verleihe Senioren das positive Gefühl, eher akzeptiert zu werden und sich einbringen zu können. Die Statistik scheint der Volkswirtin recht zu geben: Zwischen 1996 und 2008 wurde die Sicht der Befragten des deutschen Alterssurvey auf die zweite Lebenshälfte positiver. Die Angst vor körperlichem Abbau nahm ab, dagegen wird das Alter eher als Chance zur persönlichen Weiterentwicklung gesehen.

Gelassenheit pur also statt Graus vor dem Altwerden? Ganz so einfach ist es nicht. Denn die Sicht auf das Alter hängt auch davon ab, welchen Bildungsabschluss Menschen haben – und wo sie leben. So war das Altersbild in den neuen Bundesländern um die Jahrtausendwende eher von Verlusten und weniger von Möglichkeiten geprägt als in den alten Ländern. Höher gebildete Menschen haben zudem im Schnitt beim Renteneintritt bereits mehr Hobbys als Menschen mit niedrigerer Bildung.

Laura Romeu Gordo warnt jedoch noch vor etwas ganz anderem: „Gestresste Rentner will auch keiner. Man darf alten Menschen kein schlechtes Gewissen machen, wenn sie nicht ständig aktiv sind.“ Zum Zwang dürfe die gesellschaftliche Sicht auf alte Menschen nicht werden. Alte könnten viel, sie müssten es aber nicht tun. Romeu Gordo rät deshalb: „Wenn ich im Ruhestand erst einmal ein Jahr lang Fernsehen gucken will, ist das auch völlig okay.“