Der Kampf gegen Rauschgift scheint verloren: Drogen sind im Alltag weit verbreitet und verfügbar. Und das, obwohl die Polizei kiloweise Stoff aus dem Verkehr zieht. Die Fahnder geben nicht auf – und auch nicht die Dealer.
Stuttgart - Der Mann mit den auffälligen langen Haaren ist sich sicher: Diese junge Frau dort, die scheint sich für Kokain zu interessieren. Die Passage unterm Rotebühlplatz ist zwar nicht mehr die große Brennpunkt-Drogenszene wie noch in den Neunzigern, als der Dealer seine traurige Drogenkarriere begann. Doch Kontakte werden hier immer noch geknüpft. Der langhaarige Mann ist 50, das Leben und die Drogen haben ihn gezeichnet. Nach Jahren im Gefängnis und vergeblichen Therapien macht er wieder Geschäfte. Etwa mit dieser jungen Frau. Und einem raffiniert ausgeklügelten Verkaufssystem, wie er glaubt. Dazu verschwinden beide erst einmal in der S-Bahn.
Die Rauschgiftkriminalität in Stuttgart explodiert. Mehr als 5100 Drogendelikte verzeichnet die Kriminalstatistik, die am Donnerstag von Polizeipräsident Franz Lutz und Kripochef Rüdiger Winter vorgestellt wurde. Erstmals ist in Stuttgart die Marke von 5000 Fällen übertroffen worden. Das liegt nicht nur daran, dass die Drogenfahnder der Polizei besonders fleißig wären. „Fast überall, wo wir heute hinfassen, sind Drogen im Spiel“, sagt Kripochef Winter. Die Stoff ist leicht zu bekommen. Cannabis ist der Renner, auch bequem übers Internet.
Dann fährt ein roter Mercedes vor
„Der Umgang mit Drogen verändert sich, und auch das Unrechtsbewusstsein schwindet“, sagt Hendrik Weiß. Der Leiter des Drogendezernats ist 45 und hat seine Drogenkarriere auf der Seite der Fahnder gemacht. Der Polizist fing 1995 im Dezernat an, der Dealer mit den langen Haaren war da schon fünf Jahre als Junkie polizeibekannt. Die Wege der beiden kreuzen sich, als die S-Bahn mit dem 50-Jährigen und der jungen Frau an der Universität in Vaihingen hält. Der Dealer lässt seine Kundin am Pfaffenwaldring warten und verschwindet. Wenig später fährt er mit einem roten Mercedes vor.
Die Frau steigt ein. Und dann greift die Polizei zu. Der 50-Jährige will gerade ein Gramm Kokain und Heroin übergeben. Der Dealer ist überrascht. Selbst eine im Po versteckte Psychotablette wird von den Beamten sichergestellt. Die junge Frau ist eine Beamtin aus der Truppe von Hendrik Weiß. Bei einer Wohnungsdurchsuchung werden noch Hunderte von Tabletten als Drogenersatz gefunden. Der Verdächtige wird nach der Anzeige gegen Auflagen wieder auf freien Fuß gesetzt. Wie wird er auf den Schreck der Festnahme reagieren? Der Mann ist ein kleiner Fisch, gemessen an den Sicherstellungsmengen der Stuttgarter Polizei des vergangenen Jahres: Kripochef Winter hat auf seiner Liste mehr als 77 Kilogramm Marihuana, knapp 55 Kilo Haschisch. Dazu 1,6 Kilo Kokain, ein halbes Kilo Heroin. Dabei wurden knapp 3900 Tatverdächtige ermittelt, von denen 39,3 Prozent keinen deutschen Pass haben.
Ein völlig unerwarteter Fund
Alles nur Sisyphosarbeit? Dass die Polizei immer mehr Delikte aufdeckt, hängt auch mit verstärkten Kontrollen zusammen. Seit 2016 sind mit der Sicherheitskonzeption Stuttgart verstärkte Sonderstreifen im Areal rund um den Hauptbahnhof unterwegs. Die Beamten nehmen neben Bettlern und Pöblern auch unzählige Kleindealer fest. Die Folge: „Die Dealer aus Nordafrika und Gambia spielen kaum mehr eine Rolle“, sagt Weiß.
Es gibt es auch größere Erfolge. Im April vergangenen Jahres kamen die Fahnder einem Dealer auf die Spur, der im Stuttgarter Osten aktiv war. Als die Beamten die Wohnung des 23-Jährigen aus Marokko aufsuchen, ist selbst der erfahrene Dezernatschef Weiß überrascht: „Völlig unerwartet lagen dort 40 Kilo Haschisch, zwei Kilo Marihuana und 93 000 Euro Dealergeld.“ Bei einem weiteren Fall, der bis nach Barcelona führte und eine zehnköpfige Bande hinter Gitter brachte, wurden 26 Kilo Marihuana beschlagnahmt. Nein, von Sisyphosarbeit will Weiß nicht sprechen. „Nicht, wenn man diese Leidenswege und traurige Drogenkarrieren sieht“, sagt er. Man müsse den Druck aufrechterhalten, um der Bevölkerung in der Stadt eine lebenswerte Situation zu erhalten. Unvergessen sind für ihn die Auswirkungen der Drogenkriminalität vor über 20 Jahren – mit Tausenden aufgebrochenen Autos und heimgesuchten Wohnungen. Junkies holten sich rücksichtlos Geld für Drogen. Auch achtlos weggeworfene Spritzen sorgen damals wie heute für Aufregung.
Und noch ein Versuch . . .
Der rote Mercedes ist übrigens nur drei Tage später erneut an der Universität in Vaihingen im Einsatz. Der 50-Jährige will es diesmal schlauer anfangen. Nachdem er zwei Kunden am Rotebühlplatz akquiriert und mit der S-Bahn nach Vaihingen gelotst hat, schickt er seine Freundin zur Übergabe im Auto los. Er bleibt in ihrer Wohnung in der Nähe, wo er weiteren Nachschub gelagert hat. Es geht wieder schief – denn erneut ist der Deal den Fahndern von Hendrik Weiß aufgefallen. Jetzt sitzt der 50-Jährige endgültig in Haft.