Anmerkungen zu einem Land vor dem politischen Wachwechsel - heute: die politische Kultur.

Stuttgart - Mit der Mehrheit von zwei Stimmen können die Abgeordneten der Grünen und der SPD nach dem Landtagswahlerfolg den Grünen-Fraktionsvorsitzenden Winfried Kretschmann am 12. Mai zum Ministerpräsidenten wählen. Nach 58 Jahren CDU-geführter Landesregierungen. Eine Zeitenwende, die wir in loser Folge beleuchten.

Politische Kultur - ein großes, so gerne wie gläubig und abschätzig gebrauchtes Wort. Was also kann gemeint gewesen sein, wenn etwa vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg am 27. März davon die Rede war, das Land brauche eine neue politische Kultur? Wohl nicht nur als eine Aussage über die Qualität einer politischen Auseinandersetzung. "Bemühen sich die KontrahentInnen um seriöse Argumente und einen moderaten Ton, ist man geneigt, von einer guten und niveauvollen politischen Kultur zu sprechen. Sind gegenteilige Qualitäten zu beobachten, von einer schlechten", schreibt der Salzburger Politikwissenschaftler Harald Dachs. Und folgert: "Diese Art des Wortgebrauchs meint also eher politischen Stil."

Politische Kultur ist weitreichender

Von diesem "politischen Stil" spricht der designierte neue Ministerpräsident Winfried Kretschmann immer wieder - und beschwört damit eine "tiefe Ernsthaftigkeit". Jene aber, die sich am 27. März für die Grünen oder die SPD entschieden und jene vor allem, die am Wahlabend auf dem Stuttgarter Schlossplatz eine "Mappschiedsparty" feierten, verstehen unter politischer Kultur etwas wesentlich Weitreichenderes - "einen Begriff für die Summe der politisch relevanten Einstellungen, Meinungen und Wertorientierungen innerhalb der Bevölkerung" wie es Manuela Glab und Karl Rudolf Korte 1999 im Handbuch der deutschen Einheit formulierten. Oder gar, noch schärfer, die Idee der US-amerikanischen Politologen Gabriel Almond und Sidney Verba, die Ende der 1950er Jahre in fünf demokratischen Staaten untersuchten, welches tatsächlich die für stabile Demokratien kennzeichenden Schnittstellen zwischen dem politischen System und seinen Institutionen und dem Handeln der Bürger sind.

Die 1963 veröffentlichten Befragungen von Almond und Verba ergaben funktional drei Typen der politischen Kultur: erstens ein auf den unmittelbaren Eigennutzen ausgerichtetes Bürgerinteresse, zweitens ein an den Ergebnissen der Regierungsarbeit orientiertes Bürgerinteress - und drittens eine "partizipative politische Kultur", also ein an eigenen Themensetzungen und entsprechend aktiver politische Beteiligung orientiertes Bürgerinteresse. Diesem dritten Punkt kam in Baden-Württemberg in den Monaten vor der Landtagswahl entscheidende Bedeutung zu. Sahen Gabriel Almond und Sidney Verba vor 50 Jahren hierin nur eine Säule zur Stabilisierung von Demokratien, wurde die Sehnsucht nach einem Mehr an aktiver Beteiligung in Baden-Württemberg mit Begriffen wie "Widerstand" oder gar "Revolution" aufgeladen. Äußerer Anlass waren gegensätzliche Positionen zu dem Verkehrs- und Städtebauprojekt Stuttgart 21, wobei man schon im Sommer 2010 beobachten konnte, wie das Versprechen auf direkte Mitsprache die parlamentarischen Entscheidungswege an sich in Frage stellten. Das den politisch Verantwortlichen entgegengeschleuderte "Lügenpack" forcierte den Anspruch auf und den Glauben an die eigene Position, die Position der Wahrheit.

Auf dem Schlossplatz wurde Angst verkauft

Ein Gegenüber, in dem weder den politisch Verantwortlichen, noch den fachlich Verantwortlichen (die Vertreter des Bauherren Deutsche Bahn) die Flucht nach vorne in die größtmögliche Partizipation nützte. Das auf Vorschlag der Grünen im Stuttgarter Landtag von Ex-CDU-Generalsekretär Heiner Geißler geführte Schlichtungsverfahren bot ja im Sinn der politischen Kultur eine Situation, in der sich die politisch Verantwortlichen ungeachtet positiv abgeschlossener parlamentarischer Verfahren auf Bundes-, Landes- und Regional-/Kommunaler Ebene einem auf ein einziges thematisches Ziel gerichtetes Teil-Bürgerinteresse stellten. Dessen Nein zu Stuttgart 21 wurde indes zum Synonym für Wahrheit - und provozierte eine Eigendynamik, die viel und kaum mehr Kontrollierbares erlaubte.

Einen Tag vor der Landtagswahl schließlich kulminierte diese Position der eigenen Wahrheit in einer Inszenierung auf dem Stuttgarter Schlossplatz. Vertreter des bereits selbst wieder mit Splitterinteressen konfrontierten "Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21" boten vor dem Hintergrund eines in einem Tunnel brennenden Zuges das Angstszenario übereinanderstürzender Reisender und hilfloser Rollstuhlfahrer auf den Bahnsteigen des als Voraussetzung der Parkerweiterung und einer im offenen bürgerschaftlichen Dialog möglichen Stadtentwicklung geplanten Durchgangsbahnhofs. Was am 26. März auf dem Stuttgarter Schlossplatz im besten Resteverwertungsjargon verkauft wurde, war dies: Angst. Eine Randnotiz? Aus Sicht mancher womöglich, und doch, nicht anders als der Polizeieinsatz am 30. September, ein Widerhaken in der Frage der politischen Kultur. Der Verkauf der Angst nämlich störte Vertreter der Landes-Grünen am benachbarten Parteistand nicht. "Mit denen", so die knappe Auskunft, "haben wir nichts zu tun."

"Wer hat uns verraten - Sozialdemokraten!"

Eine Wahrnehmung, die sich verschieben kann, wie die Ereignisse bei der 70. "Montagsdemonstration" (auch dies ein symbolbeladener Begriff) gegen Stuttgart 21 zeigten. Teilnehmer zogen vor die Zentrale der Landes-SPD in Stuttgart-Mitte und riefen das bekannte "Lügenpack" und scheuten auch das unter schlimmsten politischen Vorzeichen bekannte "Wer hat uns verraten - Sozialdemokraten!" nicht.

Einen Tag später sahen die Grünen Anlass, solche Anwürfe gegen den Koalitionspartner in der neuen Landesregierung zu missbilligen. Ein möglicher Anknüpfungspunkt für die von dem designierten Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann immer wieder thematisierte "Bürgergesellschaft"? Gabriel Almond und Sidney Verba hatten als Voraussetzung langfristig stabiler Demokratien gesehen, dass sich ein Bürgerinteresse nie nur spezifisch entwickeln dürfe. In diesem Sinn gibt es mit Blick nach vorne keine Wahrheit, aber doch eine Vermutung: Dialog ist, wenn nicht jeder alles besser weiß .