Nur eine von vielen typisch lemkischen Holzkirchen. Diese hier steht in Wolowiec. Foto: Welzhofer

Von Stalin wurden die Lemken aus dem Südosten Polens vertrieben. Eine Reise in einen stillen Landstrich.

Jola und Tomek sind die Letzten im Dorf Banica. Um ihr Holzhaus liegt nichts als üppige Wiese, deren grüne Ebenmäßigkeit nur ein baumumstandenes Flüsschen durchbricht. Und ein großes rostiges Etwas im Gras, das wie die Spitze einer gestrandeten Rakete aussieht, sich dann aber als verbogene Kirchenkuppel entpuppt. Die Reste eines russisch-orthodoxen Gotteshauses rosten hier still vor sich hin, Sonst ist nichts mehr übrig von dem Ort, an dem einmal 60 Häuser standen.

Banica war ein Lemkendorf. Seit dem 15. Jahrhundert lebte das einst nomadisierende Volk in jenem hügeligen Gebiet, das Niedere Beskiden (Beskid Niski) genannt wird und heute im Südosten Polens, nahe der Grenzen zur Ukraine und zur Slowakei liegt. Bergbauern waren sie, mit kyrillischer Schrift und eigener Sprache und großteils griechisch-katholische oder orthodoxe Christen. Als Stalin kurz nach dem Zweiten Weltkrieg beschloss, die Lemken in seinem Großreich umzusiedeln, waren es 60000 Frauen, Kinder und Männer, die er in den Westen Polens und in sowjetisches Gebiet bringen ließ. Stalin hatte die Lemken verdächtigt, mit aufständischen Ukrainern zu paktieren. Ihre Zwangsumsiedlung – die sogenannte Aktion Weichsel – geschah an nur einem Tag und einer Nacht im Jahr 1947.

"Es hilft, dass ich das alte Dorf nie gesehen habe und dass die Leute, die früher in unserem Haus gewohnt haben, schon vor der Umsiedlung freiwillig gegangen sind. Sonst würde ich mich hier wahrscheinlich nicht so wohl fühlen", sagt Jola Nowak, die Wirtin. So aber ist ihre Pension Banica, die sie seit 15 Jahren mit ihrem Mann Tomek betreibt, ein einsamer Wohlfühlort für Wanderer in den Ausläufern der Karpaten. Und nur der genaue Beobachter stolpert über die von Himbeerranken überwucherten Steine des ehemaligen Friedhofs am nahen Waldrand oder die verwachsenen Apfelbäume, die einmal zu einem Obstgarten gehört haben müssen.

"Man muss den Weg so planen, dass man in das Gästehaus Banica in der Dämmerung kommt. Über dem Tal steht die dunkelblaue Nacht auf, und man kann die schwarzen Bergkämme sehen. So weit das Auge reicht, gibt es kein einziges Licht. Nur ganz unten brennt am Bach der goldene Glanz der Fenster von Banica", schreibt der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk, der nicht weit von Banica, im Dorf Wolowiec lebt.

Wer durch die Mittelgebirgslandschaft geht, der bewegt sich in diesem Spannungsfeld aus satter, junger Natur und alten Geschichten. Aus wohltuender Verlassenheit und schmerzlichem Verlust. Der wandelt durch eine Schlaflandschaft mit bewaldeten Hügeln, grünen Kissen gleich, zwischen denen die Dinge und Menschen verloren gehen – und nur zufällig wieder aufzutauchen scheinen: Ein neues Holzhaus mit Balkon. Eine Frau in Kittelschürze. Ein Mann mit Pferd und Pflug. Feuersalamander und wilde Vergissmeinnicht. Ein roter Truck auf dem Weg in die Ukraine. Soldatengräber aus dem Ersten Weltkrieg und unzählige Wegkreuze. Ein Schulbus. Manchmal auch kleine Städtchen.

Es ist dieser melancholische Schwebezustand zwischen war und ist, der diese auf den ersten Blick unspektakuläre Gegend einzigartig macht.

Zwei Wanderstunden von Banica entfernt liegt Bartne. Auch Bartne ist ein Lemkenort, aber ein lebendiger. 150 Menschen wohnen hier, in typischen Bauernhäusern, die sich in Stuben, Ställe und Lagerräume aufteilen. Nach 1956 gab es ein Rückkehrrecht für die Lemken. Aber bis heute machten nur rund 3000 davon Gebrauch. Einer von ihnen ist Josef Madzik, der in Bartne eine kleine Landwirtschaft betreibt und Zimmer vermietet. Er war ein Kind, als er mit seinen Eltern 1947 umgesiedelt wurde und kam als Teenager nach Bartne zurück. "Anfangs haben wir unter dem Apfelbaum gewohnt", erzählt Josef. Der alte Besitz war enteignet. Stalin hatte große landwirtschaftliche Kollektive ansiedeln lassen. Entschädigung gab es für die Lemken nie. Aber Josef ist nicht bitter. "Es ist wie es ist", sagt er. Nicht alle Lemken denken so.

Wer die griechisch-katholische Kirche St. Cosma und Damian in Bartne besuchen will, den führt Josef, der Schlüsselwächter, – nach einer Tasse Tee und mehreren Stücken Kuchen seiner Frau Dorota – dorthin. Das Gotteshaus ist ein typisches Beispiel für die eigentümliche Sakralarchitektur der Lemken. Dreischiffig, gedrungen und hölzern, mit Schindeln auf dem Dach und nur wenigen kleinen Sprossenfenstern versehen. Geheimnisvoll, rustikal und elegant zugleich. Von außen scheint es, als kauerten sich drei kleine Kirchen mit jeweils eigener Spitze und Kreuz aneinander. Der Innenraum ist schlicht, nur die Ikonostase, die mit Ikonen geschmückte Wand vor dem Altarraum, weist den Weg in den Himmel. "Die Leute hier sind sehr traditionell", erklärt Miroslav, Priester von Bartne. Als er einmal versucht habe, die Messe auf Lemkisch zu halten, also in der Sprache, die die Lemken heute noch sprechen, sei das nicht gut angekommen. Und so hält er die dreistündige russisch-orthodoxe Messe der Tradition gemäß auf Altkirchenslawisch.

Auch Mirek Bogon, der junge Musiker, will Traditionen bewahren. Oder wiederbeleben. Wie man es sehen will. Deshalb hat er einen Chor für lemkische Kinder und Jugendliche gegründet und ihn Der Bach genannt. An diesem Tag sprudelt er in der Schule von Sekowa, einem kleinen Ort, in den immerhin ein Bus fährt. Mirek, der um die 30 ist, aber viel jünger aussieht, spielt Akkordeon in einem ausgebeulten braunen Cordanzug. Um ihn sitzen 14 Kinder. Es werden alte Lemkenlieder gesungen. Über die grünen Berge, Liebe und den Alkohol. Was ist Lemkisch, Mirek? "Das Singen. Einem Lemken ist es peinlich, wenn er ein Volkslied nicht kennt." Einmal im Jahr singt Mirek gemeinsam mit Tausenden anderen Lemken. Dann feiern sie rund um den Ort Zdynia eine Art Vertriebenentreffen. Lemken aus der ganzen Welt reisen an, bis aus Amerika und Kanada, an die 10000 Menschen. Enkel, auf der Suche nach Wurzeln. "Die Gedanken der Lemken auf aller Welt kreisen um dieses Tal. Es ist wie unser Mekka", hat es Stefan Hladyk vom Weltverband der Lemken mal gesagt.

Es könnte also auch sein, dass Jola und Tomek nicht die Letzten sind in Banica. Sondern die Ersten.

Niedere Beskiden

Veranstalter
Eine Wander- und Begegnungsreise durch die Niederen Beskiden – kombiniert mit Krakau – bietet zwei Mal im Jahr der Regensburger Veranstalter Begegnung mit Böhmen an. Vor Ort wird die Gruppe von einer einheimischen und erfahrenen Reiseleiterin begleitet. Neben Wanderungen und Besichtigungen der Orte und Holzkirchen stehen die im Text beschriebenen Begegnungen mit Lemken im Mittelpunkt der Reise. Das nächste Mal findet dieses Programm vom 15. bis 23. Oktober 2011 statt und kostet ab 830 Euro pro Person. www.boehmen-reisen.de

Auf eigene Faust
Anreise: Ab Stuttgart und Frankfurt gibt es Flüge nach Krakau. Vom Krakauer Busbahnhof aus gehen Busse nach Gorlice. Zwischen den kleineren Orten in den Beskid Niski verkehren ebenfalls Busse. Unterkunft: Die Pension Banica ist ein guter Ausgangspunkt für Wanderungen. Das Doppelzimmer kostet 19 Euro pro Nacht. www.banica.com.pl
In vielen Dörfern gibt es mittlerweile (oft sehr einfache) Übernachtungsmöglichkeiten für Wanderer. Informationen auch unter www.beskidniski.org.pl (englische Version); www.polska.travel.de

Was Sie tun oder lassen sollten
Auf keinen Fall sollten Sie erwarten, dass jeder Englisch spricht und die Unterkünfte allen deutschen Standards genügen. Außerdem gibt es nicht in jedem Ort einen Laden.
Auf jeden Fall sollten Sie bei verschlossenen Kirchentüren im Dorf nachfragen, wer den Schlüssel hat oder eine russisch-orthodoxe Messe in einer der Kirchen besuchen.

Preise
Teller Piroggen (polnisches Gericht): ca. 2,50 Euro.
Tasse Tee: 80 Cent.
Bier: 1,50 Euro.