Neun Babys wurden seit der Eröffnung der Unterkunft geboren. Derzeit wohnen 146 Menschen aus 25 Nationen in dem Systembau. Foto: Ines Rudel

Rund 500 Flüchtlinge im Monat könnten zukünftig nach Stuttgart kommen. Die Suche nach Unterkünften wird zur Herausforderung: Bedenken der Anwohner – wie jüngst in Feuerbach – sind keine Seltenheit. Doch was wird aus den Ängsten im Laufe eines Jahres? Eindrücke aus Stuttgart-Plieningen.

Stuttgart - Wundersam ist Rolf Schauers Leben geworden, seitdem direkt gegenüber seiner Wohnung fast 150 Flüchtlinge leben. „Ich wundere mich zum Beispiel“, sagt Schauer, „dass ich in der Unterkunft Menschen vom Balkan, zum Beispiel aus Serbien, treffe. Die haben keine Aussicht auf Asyl und besetzen die Plätze der Syrer.“

Keine zweihundert Meter entfernt, auf der anderen Seite der Straße, sitzt Alen aus Bosnien auf einem weißen Plastikstuhl und widerspricht Schauer vehement: „In Deutschland sagen alle, Bosnien sei sicher“, sagt Alen, „aber für wen? Für Politiker, ja, aber nicht für mich. Wenn ich zurückgehe, muss ich auf die Wiese!“ – er, seine kleine Tochter und seine hochschwangere Frau.

Alen aus Bosnien und Rolf Schauer aus Plieningen – zwischen den beiden Männern gäbe es wohl reichlich Konfliktpotenzial. Dennoch leben sie seit einiger Zeit als Nachbarn in dem Wohngebiet Im Wolfer in Stuttgart-Plieningen – friedlich. 146 Menschen aus 25 verschiedenen Nationen wohnen aktuell in der Asylunterkunft – stadtweit der ersten in einem Systembau, einem schnell aufgezogenen Fertigbau. Heute vor einem Jahr hat der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) die Unterkunft eröffnet.

19 neue Standorte sind in Stuttgart bis Ende 2016 geplant

In Zukunft werden noch mehr Flüchtlinge nach Stuttgart kommen als bisher, bis zu 500 im Monat könnten es werden. Sie müssen alle irgendwo wohnen. Die Suche nach Flächen wird immer schwieriger. In Feuerbach sammelten Anwohner Unterschriften gegen eine geplante Unterkunft, weil eine Kleingartenanlage abgeholzt werden soll. Stuttgarter protestierten in den Schelmenäckern, wehrten sich in Vaihingen gegen die kurzfristige Umwidmung eines Schülerhorts und in Degerloch gegen die Abkehr von einem Wohnungsbauprojekt.

Das Potenzial für Interessenkonflikte wächst: 19 neue Standorte für Flüchtlingsunterkünfte plant die Stadt bis Ende 2016 – elf sind als vierte Gruppe von Unterkünften beschlossen, über die fünfte Gruppe mit acht weiteren Standorten will der Gemeinderat nach der Sommerpause beraten. „Wir werden keine Standorte finden, an denen es keine Betroffenheit gibt“, sagte Fritz Kuhn vergangene Woche – und stimmte die Stuttgarter auf „schwierige Zeiten“ ein.

Die sahen vor gut einem Jahr auch die Menschen in Plieningen auf sich zukommen: Anwohner legten bei einer Anhörung zum Bauantrag Widerspruch gegen die Unterkunft ein. Weil die Wiese neben dem Sportverein als Grünfläche ausgewiesen war, wäre sie damals fast durch das Raster der Stadt gefallen – wenn Bezirksvorsteherin Andrea Lindel nicht selbst auf die Fläche aufmerksam gemacht hätte. Anfang der 1990er, sagt Lindel, hätten hier schon einmal Flüchtlinge gelebt, in einem Containerdorf. Warum sollte das nicht wieder gehen?

Was ist aus den Ängsten der Anwohner geworden?

Genau diese Erinnerung, so Anwohner in Plieningen, habe sie skeptisch gemacht. „Die Flüchtlinge haben uns damals die Fahrräder aus der Garage geklaut und die Gartenmöbel von der Terrasse“, sagt eine Anwohnerin, die anonym bleiben möchte. Das Containerdorf sei schlimm gewesen, habe eine Rattenplage gebracht – manche hätten sich gefragt, ob es wieder so wird.

Sind die Ängste der Anwohner ein Jahr später wahr geworden? „Am Anfang war es sehr unruhig“, sagt Rolf Schauer, der direkt gegenüber der Unterkunft wohnt. „Aber mittlerweile hat sich die Situation beruhigt.“ Für Schauer und manche andere war vor allem der Müll ein Problem: Die Säcke hätten nicht in, sondern neben den Containern gelegen – und die Container meist offen gestanden. Rolf Schauer hat der Bezirksvorsteherin gemailt – und das Problem wurde gelöst. Jetzt gibt es einen Mülldienst unter den Flüchtlingen. Wer nach der Ordnung sieht, kann ein Taschengeld dazuverdienen.

Das Jahr in Zahlen: Etwa neun Babys wurden in dem Jahr seit der Eröffnung geboren, zwei weitere werden in den nächsten Tagen erwartet. Mindestens eine Abschiebung hat es gegeben. Beziffern lasse sich die Zunahme von Diebstahl zwar nur schwer, sagt die stellvertretende Leiterin des nahe gelegenen Edeka-Markts. Der Anstieg sei aber „extrem“ gewesen. Rund 60 gebrauchte Fahrräder hat der Ehrenamtliche Thomas Plagemann bisher an die Flüchtlinge ausgegeben. Und mehr als 50 Menschen, so schätzen Mitglieder, engagierten sich im hiesigen Flüchtlingsfreundeskreis.

Der Balkon ist Gold wert

Trotz des großen Engagements: Manche Probleme bleiben. Tobias Bender zum Beispiel ist unzufrieden mit der Lage auf dem Spielplatz neben der Unterkunft: „Seit der Eröffnung liegt dort mehr Müll, auch Glasscherben – das ist mein Eindruck“, sagt der 35-Jährige, der mit seinen zwei Kindern im Wolfer wohnt. Die 84-jährige Karin Horstmann ist dagegen „verblüfft, wie ordentlich es dort zugeht, obwohl 25 Nationen auf einem Haufen leben.“

Im ersten Flüchtlings-Systembau der Stadt leben aktuell 74 Alleinstehende mit 12 Alleinerziehenden, neun Familien und drei Ehepaaren zusammen. In anderen Städten sind teilweise viel größere Gruppen an einem Standort untergebracht. Stuttgart baut mit dem „Stuttgarter Weg“ auf dezentrale Unterbringung. Im Wolfer trage auch der Mix aus Familien und Alleinstehenden viel zur guten Atmosphäre bei, sagt Heimleiterin Elisa Schwegler. Und natürlich: der Balkon! Er ist ein wichtiges Thema hier. Bezirksvorsteherin Lindel, die Sozialarbeiter, Thomas Plagemann, der eine Fahrradwerkstatt auf dem Gelände leitet – egal wen man fragt: Alle schwören auf den Balkon. Verwaltungstechnisch gesehen ist es gar kein Balkon, sondern ein zusätzlicher Fluchtweg.

Bezeichnung hin oder her: Besucher merken schnell, wie viel der Balkon bedeutet. An diesem Nachmittag lehnt eine alte Frau gegen die Brüstung und überblickt den Garten, daneben tapst ein Kleinkind durch eine Zimmertür hinaus ins Freie. „Der Laubengang vergrößert gefühlt die Zimmer“, sagt Stefan Greuling, einer der beiden Leiter der Unterkunft. Einige Quadratmeter zusätzlich sind im Wolfer kostbar: In einem Zimmer leben je eine Familie oder bis zu drei Alleinstehende zusammen.

Nfally aus Gambia spielt Fußball

Aber der hoch gelobte Balkon kostet die Stadt rund 150 000 Euro pro Unterkunft – deshalb kommen nur ausgewählte Unterkünfte in den Genuss. Die Laubengänge gebe es dort, wo die Feuerwehr die Gebäude nicht von allen Seiten gut erreichen kann – und deshalb im Ernstfall nicht jeden problemlos aus dem ersten Stock bergen könnte, sagt Günter Gerstenberger vom Sozialamt.

Fragt man den Fahrrad-Experten Plagemann nach seiner Werkstatt, redet er trotzdem erst einmal: vom Balkon. Er glaubt, ein Balkon sei für neue Systembauten unabdingbar: „Baulich schafft man ohne ihn viel zusätzliches Konfliktpotenzial.“ Aber ist Frieden in der Unterkunft der Stadt und dem Steuerzahler jedes Mal 150 000 Euro wert? Bislang gibt es nur an drei Systembau-Standorten Balkone. Bis Mitte 2016 wird es 20 solcher Standorte in Stuttgart geben.

Vom Balkon des hinteren Gebäudes der Flüchtlingsunterkunft kann man den Sportplatz des KV Plieningen nebenan erahnen. Hier spielt Nfally aus Gambia seit Oktober 2014 in der Kreisliga mit. Nfally erzählt von seinen Mitspielern: „Sie haben mir Schuhe und Klamotten fürs Training gegeben. Jetzt habe ich alles, was ich brauche.“

Langeweile ist das Schlimmste

Die Mitspieler des 23-Jährigen sind nicht die Einzigen, die helfen wollen. Der lokale Flüchtlingsfreundeskreis hat sich schon Monate vor dem Einzug der Flüchtlinge gegründet. Die beiden Leiter der Unterkunft, Elisa Schwegler und Stefan Greuling, sehen in dem Bürgerengagement eine weitere Erklärung, warum der Alltag in der Nachbarschaft relativ reibungslos verläuft. Frauencafé, Handarbeitsgruppe, Gärtnern, Fahrradschrauben – der Freundeskreis bietet ein Beschäftigungsprogramm.

Zum Glück – denn die Langeweile, sagt Biram aus Gambia, sei das Schlimmste. Wie viele andere hier möchte er am liebsten: „arbeiten“. Alen, der Familienvater aus Bosnien, sagt: „Ich würde jede Arbeit nehmen, die es gibt. Wenn ich arbeiten könnte, würde ich selbst eine Wohnung bezahlen und nicht hier leben.“ Doch das ist kompliziert. Zwar dürfen Asylbewerber ab drei Monaten nach ihrer Ankunft in Deutschland arbeiten. Aber bis 15 Monate nach der Ankunft muss bei jeder Stelle geprüft werden, ob nicht ein deutscher oder EU-Bürger diese stattdessen nehmen könnte. „Die Prüfung kann Monate dauern“, sagt Heimleiter Greuling, der sich am Abend zu den Bewohnern gesetzt hat. „Bis dahin haben Arbeitgeber längst jemand anderen gefunden.“

Probleme durch Reden lösen

Noch so ein Problem, das sie hier nicht lösen können. Was sie lösen können, packen sie selbst an: Wenn Rolf Schauer von gegenüber die Musik zu laut ist, holt er nicht die Polizei. „Ich gehe selbst hin und sage Bescheid“, sagt Schauer. Neulich zum Beispiel, als besonders laute, orientalische Musik aus dem Garten der Unterkunft dröhnte: „Da wurde ich gleich eingeladen mitzufeiern.“ Wieder so ein Anlass, sich zu wundern – doch die Erklärung folgte: „Ein Kind war geboren, und es wurde kräftig gefeiert.“ Die Musik hätten die Bewohner trotzdem leiser gemacht. „Mit denen kann man reden.“

Vielleicht kamen hier nur glückliche Zufälle zusammen. Vielleicht können Menschen anderswo aber auch aus Plieningen lernen. Nach dem Besuch im Wolfer jedenfalls bleibt der Eindruck: „Schwierige Zeiten“, vor denen Fritz Kuhn gewarnt hat, sehen anders aus.