Erfolg der Piratenpartei sorgt für Stress in der Berliner Fraktion. Ein Stimmungsbild.

Berlin - Der Mann in der Loge ist an diesem Tag der mächtigste des Hauses. So schlank wie lang steht er da und wirkt auf den ersten Blick gar nicht so, als könnte er seinen Worten Taten folgen lassen: "Wenn ich sage, jetzt ist Schluss mit lustig, dann ist Schluss mit lustig." Prüfend beäugt er den Button, den Oliver Höfinghoff am Revers seiner Jeansjacke trät - "Keine Nazis" steht dort unter einem durch ein Verbotsschild geächtetes Hakenkreuz. "Aber keine Fahnen und keinen Klamauk und keine politischen Demonstrationen im Abgeordnetenhaus", erteilt der Sicherheitsprofi an der Pforte gleich noch einen Kurs in korrektem politischem Verhalten.

Oliver Höfinghoff schaut Ernst drein. Er weiß, er steht unter Chaoten-Verdacht. Jeder rechnet damit, dass er mit Augenklappe wie ein politischer Wüterich ungestüm, ungehobelt und unerfahren in dieses Haus einfällt und mit seinem imaginären Holzbein von einem Fettnäpfchen ins nächste stolpert. Höfinghoff ist einer von 15 Abgeordneten der Piratenpartei, die bei der Berlin-Wahl vor einer Woche aus dem Stand heraus fast neun Prozent erhalten hatte und sich nun "klar macht zum ändern" - bereit ist, das Abgeordnetenhaus zu entern. Ändern durch Öffentlichkeit: Die Fraktionssitzungen der Piraten finden öffentlich statt. Doch so anders ist das gar nicht - in den 80er Jahren hatten die frisch gewählten Berliner Grünen, die seinerzeit noch Alternative Liste hießen, öffentliche Fraktionssitzungen eingeführt. Die Piraten freilich übertragen sie auch noch live im Internet. So sitzt Höfinghoff im provisorischen Sitzungssaal und hat Mühe, mit seinen 14 Kollegen, vielen Mitarbeitern und Parteifreunden zwischen den fast 30 Kameraleuten und Journalisten zu ihren Plätzen am Tischviereck zu gelangen. Die Tür bleibt auf. Denn alles muss, alles soll transparent sein.

Die Zauberformel heißt Transparenz

"Transparenz" war die Zauberformel des Wahlkampfs, und an diesem Versprechen werden sich die Piraten in jeder Phase ihrer Entscheidung messen lassen müssen. Ein mühsames Unterfangen: Spitzenkandidat Andreas Baum und der Pankower Abgeordnete Christopher Lauer wollen für den Fraktionsvorsitz kandidieren und möchten sich über den sogenannten "Fraktions-Blog" vorstellen und zur Wahl stellen. Die einzige weibliche und jüngste Piraten-Abgeordnete Susanne Graf findet das "intransparent". Wozu einen Fraktionsvorstand, so lange es nicht mal "eine richtige Fraktion" gibt? Andere meinen, erst wenn Personalstellen und Posten verteilt seien, lasse sich politisch operieren. Umstritten ist auch die Frage, ob es grundsätzlich Klausuren gegen soll - also dem Wort und Sinn nach abgeschottete Zusammenkünfte, um unbeobachtet und entsprechend frei denken und Themen besprechen zu können. Eine Lösung gibt es noch nicht. Diese Piraten machen es sich nicht leicht mit einander.

Höfinghoff kann es kaum erwarten, dass das Experiment Parlament beginnt. Dass auch Nichtparteimitglieder Anträge einreichen können und jeder einzelne Parteitagsbeschluss von der Basis abgeklopft wird, ist für ihn das Höchstmaß an, ja: Transparenz. "Unsere Basis ist die Summe an Leuten", sagt er, "wir sind oft und gern chaotisch." Was genau heißt chaotisch? "Probleme werden in die Debatte hineingeworfen, und wir kommen auf sehr viele Lösungsansätze. Die Computer-Nerds verbeißen sich in jedes fachliche Problem. Sie sind in der Lage, aus Fachbüchern und Studien allen Sachverstand zusammenzutragen, so dass wir im besten Fall immer auf die beste Lösung kommen." Und dann? Wer entscheidet? "Es gibt einen Umsetzungsbeauftragten, der die Beschlüsse mit der Landesmitgliederversammlung und dem Vorstand erörtert." Und alle ziehen dann mit? "Die Basis wird jeden einzelnen beobachten und verhindern, das irgendjemand zu klüngeln versucht." Sind Kompromisse schon Klüngelei? "Wir werden nie unsere Überzeugungen über Bord werfen, um koalitionsfähig zu sein."

Absage an das Rechts-Links-Schema

Überzeugungen gibt es auch unter Piraten viele. Ehemalige Hausbesetzer sympathisieren mit ihnen genauso wie Religions- und Kirchenkritiker, Unternehmer genauso wie Angestellte, Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens genauso wie Gegner der Privatisierung von S-Bahn- und Wasserbetrieben. Der Linksautonome ist dabei genauso wie der klassische Wirtschaftsliberale, der vor allem die Bürger- und Internetfreiheit hochhält, aber seine Einkommenssteuererklärung lieber nicht offenlegen will. Die Piraten sind nicht nur Computerfreaks, sie wollen auch gut damit verdienen.

Vom klassischen Rechts-Links-Schema hält Oliver Höfinghoff nichts. "Okay, wir sind definitiv nicht konservativ. Wir sind progressiv, und weil wir vorne stehen, geht es dann in Nuancen darum, ob wir vorn links oder vorn mittig stehen. Wichtiger ist uns aber von unseren Leuten zu erfahren: Was willst Du, und was hast Du drauf?"