Modell eines Supraleiter-Stromkabels: Dieses neue Kabel überträgt deutlich mehr Strom als herkömmliche Kupferkabel – ein Beispiel für die praktische Anwendung der Grundlagenforschung der diesjährigen Physik-Nobelpreisträger. Foto: dpa

Materie kann nicht nur gasförmig, flüssig oder fest sein. Es gibt auch exotischere Zustände. Entscheidende Theorien dazu haben drei Physiker entwickelt, die dafür nun den Nobelpreis erhalten .

Stockholm - Am 3. April 1973 rief der amerikanische Elektronikingenieur Martin Cooper mit einem klobigen Mobiltelefon einen Kollegen an. Was heute eine Banalität ist, war damals eine Sensation. Es war der erste Handy-Anruf. Cooper gilt als Erfinder des tragbaren Telefons, das über Funk mit dem Telefonnetz kommunizieren kann. Ohne Grundlagenforschung, wie sie beispielhaft die diesjährigen Physiknobelpreisträger David Thouless, Duncan Haldane und Michael Kosterlitz, geleistet haben, wäre der heute 87-Jährige Cooper niemals in die Technikgeschichte eingegangen.

„Tür zu einer unbekannten Welt geöffnet“

Die drei Briten, die an US-Eliteuniversitäten forschten, werden für die Beschreibung exotischer Materiezustände ausgezeichnet. Was sich kompliziert anhört, ist in Wirklichkeit noch viel komplizierter. Ohne ihre mathematischen Modelle wäre der moderne Hightech-Kosmos sehr viel öder und leerer. „Die Geehrten haben eine Tür zu einer unbekannten Welt geöffnet, in der Materie seltsame Zustände annehmen kann“, heißt es zur Begründung der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften am Dienstag in Stockholm.

Die höchste Auszeichnung für Physiker ist mit umgerechnet etwa 830 000 Euro (acht Millionen Schwedischen Kronen) dotiert. Eine Hälfte erhält Thouless, die andere geht an Haldane und Kosterlitz. Alle drei Wissenschaftler forschen in den USA.

Jenseits der bekannten Aggregatzustände

Die Theorien der drei Briten sind nicht einfach zu verstehen. Selbst den Nobel-Juroren ist es schwergefallen, sie zu erklären. Die drei bekanntesten Zustände von Materie kennt jeder: gasförmig, flüssig, fest. Unter bestimmten Bedingungen kann Materie aber auch exotischere Zustände annehmen und ungewöhnliche Eigenschaften entwickeln. Dazu gehören Superkonduktoren, in denen Strom besonders leicht fließen kann, aber auch sogenannte Superfluide oder dünne magnetische Schichten.

Mit ihren Theorien machen es Thouless, Haldane und Kosterlitz möglich, diese Phänomene zu erklären. „Dank ihrer Pionierarbeit ist die Jagd auf neue und exotische Zustände von Materie eröffnet“, teilt die Nobel-Jury mit.

Völlig neue Materialien

Hans Boschker, Physiker am Max-Planck-Institut für Festkörperphysik in Stuttgart, tut sich auch schwer damit, Laien die Materie zu erklären. „Es handelt sich um Forschungen, die die Zukunft der Physik ganz wesentlich bestimmen werden. Es geht um Phasenübergänge in Materialien, die nicht wie die klassischen Übergänge fest-flüssig-gasförmig funktionieren.“

Thouless, Haldane und Kosterlitz haben diese ungewöhnlichen physikalischen Zustände von Materie unter die Lupe genommen. Was sie herausgefunden haben, führte zu völlig neuen Materialien, die bisher unbekannte Anwendungen in den Materialwissenschaften und der Elektronik möglich machen. Dazu gehören zum Beispiel Supraleiter – also Material, das Elektrizität ohne einen Verlust der Widerstandskraft leitet.

Aus vielen Bereichen der Wissenschaft, der Medizin und Technik – beispielsweise in der medizinischen Diagnostik wie den Computertomografen oder dem Kernspin, aber auch bei Elektrizitätsleitungen – ist diese sogenannte Supraleitung nicht mehr wegzudenken.

Ein praktisches Ziel: Energieersparnis

Für Henning Riechert vom Berliner Paul-Drude-Institut fußt die preisgekrönte Beschreibung ungewöhnlicher Materiezustände auf einem mathematischen Konzept: „Diese mathematische Beschreibung von Körpern ist in die Physik übertragen worden“, sagt er. Es gehe um Zustände von „Elektronen in Reinkultur“, die nicht leicht zu stören seien. „Das gibt Hoffnung, dass man elektronische Zustände findet, die besonders robust gegen Störungen von außen sind.“ Strom könne widerstandslos fließen und das könne zu Energieersparnis führen.

Auch für Martin Wolf vom Berliner Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft geht es in den Theorien um den Traum von einem widerstandsfreien Transport von Elektronen. Anwendungen sieht er im Design neuer Materialien. „Es geht aber bestimmt nicht um die Stromleitung von der Nordsee nach Bayern“, sagt Peter Fratzl vom Potsdamer Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung. Wie Riechert sieht er eher Anwendungen bei Quantencomputern, die variabler rechnen und mehr Informationen verarbeiten und speichern könnten.

Noch Zukunftsmusik: Quantencomputer

Quantencomputer, die auf den Gesetzen der Quantenmechanik basieren, sind bisher nur ein theoretisches Konzept – Zukunftsmusik. Ein konkretes Ergebnis der physikalischen Materialforschungen, auf die auch die Entwicklung neuer Computer basieren, sind aber immer leitfähigere Oberflächen von elektronischen Bauteilen. An ihnen wird auch am Max-Planck-Institut in Stuttgart intensiv gearbeitet. „Es geht um Materialien für die nächste und übernächste Generation von Elektronik“, so Boschker. Die Prinzipien, mit denen nach Materialien gesucht würden, hätten die Preisträger herausgefunden.

„Das ist Grundlagenforschung in Reinkultur, die jetzt noch nicht angewendet wird, sondern erst in einigen Jahren oder Jahrzehnten“, betont Hans Boschker. „In ihrer Bedeutung für die Festkörperphysik ist sie vergleichbar mit der Entdeckung der Gravitationswellen in der Astronomie.“

Die Physik-Nobelpreisträger 2016

David Thouless

1934 in Bearsden, Schottland, geboren

Physikstudium an der Universitäten Cambridge, Cornell, Berkeley, Birmingham

1965-1978 Professor für mathematische Physik in Birmingham

1980-2003 Professor für Physik an der University of Washington

Emeritierter Professor an der Universität von Washington in Seattle. Thouless erhält die eine Hälfte des Preisgeldes (417 000 Euro).

F. Duncan Haldane

1951 in London geboren

Physikstudium an der Universität Cambridge, dort 1978 Promotion

1987-1990 Professor an der University of California, San Diego

Ab 1990 an der Princeton University (US-Bundesstaat New Jersey)

Haldane teilt sich mit Kosterlitz die andere Hälfte des Preisgeldes von vier Millionen schwedischen Kronen.

John Michael Kosterlitz

1942 in Aberdeen, Schottland, geboren

Physikstudium an der Cambridge University, 1969 Promotion in Oxford, Großbritannien

Postdoktorand an der Cornell University und der University of Birmingham

Seit 1982 Professor für Physik an der Brown University in Providence (US-Bundesstaat Rhode Island).