Im Obstbau wird deutlich mehr gespritzt als in anderen landwirtschaftlichen Bereichen. Foto: Greenpeace

In der Bodenseeregion scheinen viele kleinere Gewässer in einem alarmierend schlechten Zustand zu sein. Der Verdacht, dass Pflanzenschutzmittel die Ursache sind, drängt sich auf. Vor Behörden und Bauern liegt noch ein langer Weg.

Friedrichshafen/Stuttgart - Auch anderthalb Jahre nach dem großen Schock will das Landratsamt in Friedrichshafen die Ergebnisse einer Untersuchung kleinerer Bäche lieber nicht öffentlich machen: Man habe nur wenige zufällige Stichproben gezogen und die Resultate auch nicht richtig dokumentiert, heißt es ausweichend. Aber so viel steht fest: Die Bäche wiesen so wenige Insektenlarven, Muscheln und Würmer (fachspezifizisch Makrozoobenthos) auf, dass der Zustand als „alarmierend“ eingestuft werde; die Ergebnisse nehme man „sehr ernst“.

Überall in Baden-Württemberg arbeiten die Behörden daran, die Wasserqualität der Flüsse und Seen zu verbessern – die EU verpflichtet die Staaten, einen „guten“ Zustand zu erreichen. Am Bodensee, in den Kreisen Ravensburg, Konstanz und Bodenseekreis, war man 2016 schon einen Schritt weiter gegangen und hatte auch Gräben, Bächlein und Tümpel auf ihre Artenvielfalt hin untersucht – mit niederschmetterndem Fazit. Das Umweltministerium kann auf Nachfrage keine andere Region im Land benennen, in der ähnliche Bilanzen bekannt seien. Womöglich aber hat der Bodensee nur das Pech, besonders weit zu sein in der Analyse.

Bei Wein und Obst wird besonders viel gespritzt

Doch es drängt sich auch ein anderer Verdacht auf. Am Bodensee ist der Obstbau besonders stark, und der Nabu Baden-Württemberg hat erst in dieser Woche in seinem ersten Pestizidbericht festgestellt, dass Äpfel und Weinreben landesweit zwar nur sechs Prozent der Anbaufläche ausmachen, dort aber 44 Prozent aller Pflanzenschutzmittel ausgebracht würden. Äpfel müssen makellos sein, deshalb wird häufig gespritzt, meist über ein Vernebelungsgerät. Bei Wind können die Mittel abdriften, in die Gewässer hinein. Während größere Flüsse die Spritzmittel noch eher verkraften, sprich verdünnen können, führt die Konzentration in kleineren Bächen womöglich schon zum Artensterben.

Robert Schwarz, der Sprecher des Bodenseekreises, verweist auf profundere Studien in der Schweiz und auf Untersuchungen des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung in Leipzig; diese deuteten auf einen Zusammenhang von Spritzmitteln und Artenarmut in den Bächen hin. Er betont aber auch, dass andere Faktoren, wie Klimawandel oder Flurbereinigung, durchaus eine Rolle spielen könnten: „Es laufen die Vorbereitungen für ein spezielles Untersuchungsprogramm in der Bodenseeregion“, sagt Schwarz. So wolle man eine belastbare Grundlage erstellen.

Auf die Ergebnisse warten die Behörden aber nicht, schon um nicht den Eindruck zu vermitteln, sie blieben untätig. Im vergangenen Jahr hat man in 55 Veranstaltungen mutmaßlich alle Landwirte der Region informiert. Und mehrere Maßnahmen sind fortgesetzt worden; unsere Zeitung berichtete schon vor einem Jahr über die Problematik. So bietet man den Landwirten finanzielle Anreize, damit diese ihre Spritzgeräte umrüsten oder erneuern. Obwohl ein neues Gerät bis zu 30 000 Euro koste, seien seit Anfang 2017 bereits 95 neue Maschinen angeschafft worden; die „Abdriftminderung“ liege bei 90 Prozent. Wie Agrarminister Peter Hauk (CDU) sagte, gebe es über EU-Gelder bis zu 50 Prozent Zuschuss. Daneben hätten mehr als 170 Betriebe nach einer Schulung ihre Geräte zumindest mit neuen Düsen ausgestattet, damit die Mittel nicht so weit weg getrieben werden. Die Landwirte zeigten trotz teils schwieriger wirtschaftlicher Situation „grundsätzlich Verständnis“, sagt Schwarz. Insgesamt gibt es am Bodensee etwa 800 Betriebe mit Baumobstanbau.

Abstandsregeln zu Gewässern werden teils missachtet

Weiter wollen die Behörden am Bodensee künftig stärker kontrollieren, ob die Landwirte die gesetzlichen Abstände einhalten – zwischen der letzten bespritzten Baumreihe und einem Gewässer müssen fünf bis 20 Meter liegen. Als Grundlage dafür werden jetzt flächendeckend Luftbilder angefertigt. Bei Kontrollen 2017 zeichneten sich in drei von vier Fällen Verstöße ab, schrieb die Umweltdezernentin des Bodenseekreises Irmtraud Schuster im vergangenen Juli in einem Brief an den Nabu.

Tatsächlich sind viele Landwirte bereit, zur ökologischen Verbesserung der Bäche beizutragen, so lange die Wirtschaftlichkeit ihrer Betriebe nicht bedroht ist. In manchen Versammlungen am Bodensee wurde jedoch auch Unmut laut: Manche Landwirte zweifelten an, ob die Spritzmittel wirklich die Ursache seien; und die Einhaltung der Abstände stoße nur in Ausnahmefällen auf Akzeptanz, heißt es in einem offiziellen Bericht. Die Obstbauern forderten auch eine Sondergenehmigung wie die Betriebe im „Alten Land“ bei Hamburg, einem der wichtigsten Apfelanbaugebiete in Deutschland. Minister Hauk hat aber klargestellt: „Baden-Württemberg wird keine Ausnahmeregeln definieren und an den strengen bundesweiten Regelungen in Sachen Gewässerabstand festhalten.“

In den vergangenen Jahren ist schon viel erreicht worden

Kathrin Walter, die Geschäftsführerin des Landesverbandes Erwerbsobstbau, forderte Verständnis ein: „Wir spritzen so viel wie nötig und so wenig wie möglich.“ Man wolle möglichst mit der Natur arbeiten, schon weil man dann auch Kosten für die Spritzmittel spare. Die Abstandsregel sei deshalb schwierig, weil für jede Obstart und für jedes Mittel ein anderer Abstand gelte. Auch Manfred Büchele, der Leiter des Kompetenzzentrums Obstbau in Bavendorf am Bodensee, betont die Komplexität des Themas. So gälten etwa in Tettnang, weil dort auch Hopfen angebaut wird, der nicht mit einem bestimmten Mittel aus dem Obstbau in Berührung kommen darf, andere Abstände als in Überlingen. Und in anderen EU-Ländern seien die Gesetze viel weniger streng. In den vergangenen Jahrzehnten habe sich aber schon sehr viel getan; und das Kompetenzzentrum erarbeite längst Prognosemodelle, um die Abfolge der Spritzungen zu optimieren und um die Mengen zu reduzieren. „Dennoch ist es sinnvoll, jetzt nochmals verstärkt an das Thema ranzugehen“, sagt Büchele.

Johannes Enssle, der Chef des Nabu Baden-Württemberg, hält alle genannten Maßnahmen für richtig. Sie gehen ihm aber nicht weit genug: Zentral sei, dass die Menge an Pflanzenschutzmitteln drastisch reduziert werde – dazu habe der Nabu in seinem Pestizidbericht konkrete Vorschläge gemacht. Minister Hauk verweist aber auf die beschriebenen Bemühungen: „Unsere Strategie wird darauf abzielen, vor allem die Risiken zu reduzieren und nicht bloß auf die Mengen zu schauen.“ Enssle glaubt im Übrigen nicht, dass die Bodenseeregion allein so artenarme Bäche aufweist: „Überall, wo es Intensivkulturen mit Erdbeeren, Spargel oder Gemüse gibt, muss man ähnliche Ergebnisse befürchten“, sagt er. Und: Bisher schaue man, wenn überhaupt, nur auf die Gewässer. Aber wie es um die Kleinstlebewesen auf den Äckern stehe, habe noch nie jemand untersucht.

Streit über die Gefährlichkeit von Pflanzenschutzmitteln

Pestizidbericht

Laut dem Nabu werden jedes Jahr rund 2300 Tonnen an Pestiziden in Baden-Württemberg ausgebracht, darunter auch 203 Tonnen an Glyphosat. Die Zahlen entstammen dem ersten Pestizidbericht, den der Nabu an diesem Donnerstag veröffentlicht hat.

Gegenrede

Agrarminister Peter Hauk (CDU) kann die Zahlen nicht nachvollziehen; der Nabu stelle die Bauern wieder einmal in die Ecke der „Giftspritzer“. Während der Nabu eine Halbierung der Pestizide fordert, will Hauk lieber die Risiken minimieren. Dafür gebe es eine Strategie des Landes.

Seine Äußerungen anlässlich des Pestizidberichts hat Peter Hauk am Freitag jedoch zurückgenommen. „Ich habe in der gestrigen Situation zu emotional reagiert“, räumte er in Stuttgart ein. Dabei ging es um einen Kommentar Hauks zur Nabu-Forderung, die Mengen an ausgebrachten Pflanzengiften anonymisiert offenzulegen. Er hatte dazu gesagt, wie viele Herbizide, Fungizide oder Insektizide die Landwirte, Obstbauern oder Winzer ausbringen, gehe die Bevölkerung im Grunde nichts an. Hauk betonte jetzt: „Selbstverständlich müssen wir die Verbraucher durch Transparenz und Aufklärung mitnehmen, um das Vertrauen in unsere Landwirtschaft und für die Arbeit unserer Bauern zu stärken.“ Es sei nicht seine Absicht gewesen, dass in der Öffentlichkeit durch seine Äußerung ein falscher Eindruck entstanden sei. „Deshalb nehme ich diese zurück“, sagte er.

Ökolandbau

Christian Eichert von der Arbeitsgemeinschaft Ökologischer Landbau betonte, dass die 30 000 Ökobauernhöfe in Deutschland seit Jahrzehnten zeigten, wie man Flora und Fauna ohne Herbizide schützen könne. Der Ökolandbau müsse deshalb viel besser gefördert werden.