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Vor lauter Umarmung vergessen Kandidaten wie Kulturschaffende, dass nicht nur Kunst Distanz braucht.

Stuttgart - Fritz Kuhn hatte die Richtung vorgegeben: Freiräume schaffen, Möglichkeiten eröffnen – was man eben so sagt beziehungsweise hören will von einem, der auszieht, den lang geübten politischen Panoramablick auf lokaler Ebene zu bestätigen. Fritz Kuhn, der Bundesgrüne, der fraglos politische Mensch, Fritz Kuhn, für den es nicht nur Höhen gab und der seine politische Narben nicht versteckt. Der sich gerade deshalb eine Ironie leisten kann, die tatsächlich noch spottet und nicht eigentlich doch nicht so gemeint war.

So war er auch in Stuttgart aufgetreten, anfangs, und nahezu zum Auftakt seines langen möglichen Weges auf den Stuhl von Amtsinhaber Wolfgang Schuster (CDU) von den Kulturschaffenden der Stadt bestaunt worden. Kuhn (Grüne) kam, sprach, geladen von den Sachkundigen Bürgern im Kulturausschuss des Stuttgarter Gemeinderats, und siegte in seiner ersten Runde. Hörbares Aufatmen ja im Kulturrund. Einer, der reden kann, einer, der fordert, einer der lässig weit denkt und mit ernster Miene darauf verweist, dass das große Denken im besten Sinn verortet sein müsse. Applaus – gerade so, als habe Kuhn die Kulturschaffenden in der Landeshauptstadt zur Denkwerkstatt geadelt. Glänzende Gesichter im Württembergischen Kunstverein Stuttgart – heiter die eigene Einheit weiß, deutsch, protestantisch negierend.

Fritz Kuhn, Sebastian Turner und Bettina Wilhelm haben es gewagt

„Eigentlich kann man nur Kuhn wählen“, das ist ausgemacht in der Stuttgarter Kulturszene. Und umso mehr sind deren aktive Protagonisten gekränkt, als ein anderer Kandidat an den weiteren Abenden der Veranstaltungsreihe das Primat der Kultur für die Landeshauptstadt infrage stellt. Wie kann dieser Sebastian Turner, parteilos offiziell, von der CDU ins Wahlrennen geschickt, von FDP und Freien Wählern überdies unterstützt, es wagen? Wie also kann Turner es wagen, Zweifel zu hegen, die OB-Wahl werde über die Haltung der Kandidaten zur Kultur entschieden? Unfassbar. Ein Ignorant. Und dann macht er es gar noch schlimmer, spricht über die Medienwirtschaft, die man ausbauen kann. Fehlt nur noch, dass Kunst verkauft und gehandelt wird.

Bettina Wilhelm, von der SPD aufgerufen, ist also vorgewarnt, als sie – Erste, Zweite oder Dritte im Favoriten-Trio – bei den Kulturschaffenden (oder auch nur Kulturinteressierten) zu Gast ist. Ein Jugendtheater, das wäre doch was. Und natürlich kann die Zwischennutzung leer stehender Immobilien besser werden. Gibt es ein Theater in Stuttgart, das nicht explizit Arbeit mit und für Junge und Jüngste macht, ebenso für Ältere und diese und jene – und sogar einfach für die Interessierten? Gibt es keinen Wettlauf kleiner und großer wohlmeinender oder auch gezielt agierender Stifter, Leere durch Kultur zu einem Versprechen auf eine gewinnträchtige Zukunft zu machen? Und ach – all die Bildungs- und Jugendarbeit und der ewige Lockruf, gerade die Kultur könne Grenzen überwinden. Nur einer im Rund platzt der Kunst-versöhnt-Kragen. Warum sie eigentlich immer für etwas bezahlt werde, das mit Reparatur der Schäden anderer Verursacher zu tun habe, nicht aber dafür, dass sie Kunst mache. Die Kandidatin lächelt – um sogleich den Slogan Künstler in die Schulen aufzuwärmen.

Immerhin – Fritz Kuhn, Sebastian Turner und Bettina Wilhelm haben es gewagt, sie haben sich dem Spezialtrupp gestellt, dessen scheinbar gemeinsames Kleid Kultur doch aufreizend zerfleddert ist. Mit jeweils anderer Haltung waren die Kandidaten aufgetreten – ja, auch das.

Distanz ist längst zum Unwort, ja zur Unhaltung geworden

Und nun? Geht es „gemeinsam“ und „näher“ und „für“, was das Bürgerherz begehrt. Gerade so, als wolle man das Missverständnis einer auf bloßer Einigkeit beruhenden Bürgergesellschaft immer noch weiter politisch entwerten – und werde dafür auch noch belohnt. Distanz ist da längst zum Unwort, ja zur Unhaltung geworden. Kunst ist Kunst, und alles andere ist alles andere – darf man dies also nicht mehr sagen? Und schon gar nicht Gleiches für die Politik? Man muss es sogar sagen. Weil Kunst eben nicht primär Verbindendes in sich trägt, sondern aus Reibung entsteht. Weil Politik, die nicht eine Idee, nicht eine These, sondern nur eine Geste zur Abstimmung stellt, gerade das ist, was sie vorgibt, nicht zu sein – Schaulaufen.

Unangenehme Fragen? Gäbe es zur Genüge. Was etwa die immer schnellere Verdrängung eingesessener Bevölkerung durch die mobilen Singles für die Stadtgesellschaft bedeutet. Wie etwa die Privatisierung des öffentlichen Lebens ebendieses aushöhlt. Was das eigentlich sein soll, eine endlich zu erreichende Bürgergesellschaft, wo doch das fragile und doch stolze Stadtgewebe zuvorderst von Vereinen und Initiativen, den Ehrenamtlichen der realen Bürgergesellschaft, getragen wird.

Wer weiß, vielleicht würden Fritz Kuhn, Sebastian Turner und Bettina Wilhelm ja über solche Themen reden – wenn sie denn danach gefragt würden. Die Kulturschaffenden haben ihre offiziell gegebene Chance ausgelassen und stattdessen nach Bestandssicherungen gefahndet. Das verbindet. Diskussionen forciert es nicht. Und umgekehrt lächeln die drei Favoriten für die Nachfolge von Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster sieben Wochen vor dem ersten Wahlgang alle scheinbaren oder tatsächlichen Irritationen weg. Wie auch anders. Gemeinsam geht es immer besser, und wer wollte nicht jener Stadt nahe sein, die man doch künftig lenken will.

Ein Schritt zurück, vielleicht gar zwei Schritte, wäre das nicht mutig? Klarsicht statt Tränen der Schulterschlussrührung? Und das auf und von allen Seiten? Die Sachkundigen Bürger im Kulturausschuss des Stuttgarter Gemeinderats haben mit ihren Kandidatenbefragungen etwas gewagt. Vielleicht aber sollten sie diese wiederholen – im eigenen Interesse. Betont weit entfernt von allen Gesten und betont nahe an den Rissen, die jede und also auch Stuttgarts Stadtgesellschaft durchziehen.