Am Sonntag kämpft Gunter Czisch darum, die Amtskette zu behalten. Foto: dpa/Stefan Puchner

Unter dem CDU-Oberbürgermeister Gunter Czisch ist Ulm eine funktionierende, aber oft auch biedere Stadt. Für eine Wiederwahl am Sonntag könnte das genügen.

Ein brütend heißer Samstagmittag im Juni auf dem Ulmer Münsterplatz. Am Vorabend haben die Basketballer in ihrer Arena erstmals den Titel des Deutschen Meisters geholt. Auf einer Bühne läuft eine improvisierte Party, die Korbjäger streifen vor großem Publikum die Trikots ab und zeigen tätowierte Muskeln. Der Pokal funkelt in der Sonne, Bässe wummern, die Menge jubelt, singt und trinkt. Irgendwann steigen die Neu-Ulmer OB Katrin Albsteiger (CSU) und ihr württembergischer CDU-Amtskollege Gunter Czisch auf die Bühne. Albsteiger, sichtlich aufgekratzt, trägt das Fan-Leibchen der Basketballer und bekennt sich, unter Applaus, des Amtes unziemlicher spielbegleitender Ausrufe am Vorabend für schuldig. Czisch gratuliert und lächelt freundlich. Er trägt das obligate Sakko-Hemd-Ensemble. Die Menge guckt.

Mit den großen Emo-Momenten hat es der 60-jährige Amtsinhaber nicht so sehr, manchen in Ulm gilt er darum als unnahbar. Zwar spielt er Schlagzeug, aber da sitzt man ja auch hinten im Orchester. Schon Amtsvorgänger Ivo Gönner (SPD) war dem Sport tiefinnerlich abhold, zugleich aber schlummerten in ihm die Gene eines Stars, die immer wieder an die Oberfläche wollten. Das Amt nach Gönner auszufüllen, wenn man vorher Finanzbürgermeister war, ist schwer, das war von Anfang an klar.

Eine manchmal seltsame Auslegung des Liberalen

Es gibt einen anderen, wichtigeren Grund, weshalb Czisch zuweilen befremdet. Seine Verdienste sind unbestritten: Der Haushalt der Stadt ist grundsolide, die Verwaltung schnurrt, soweit sich das von außen ablesen lässt. Nichts rund um den Rathauschef ist bekannt von Patronage, Vorteilsnahme oder auch nur falschem Parken. Dazu ist er ein disziplinierter Schaffer; aus seinem Arbeitsstundenaufwand macht er auch kein Geheimnis.

Unverständnis verdient sich der Amtsinhaber allerdings mit seiner manchmal schwer zu begreifenden Vorstellung von Liberalität und den sich daraus ergebenden Folgen. Das zeigt sich deutlich beim Thema Klimawandel. Jeder in seiner Bürgerschaft, sagte Czisch auch in diesem Wahlkampf, solle selber entscheiden, ob er Auto fahre oder Fahrrad, solle die Wahl haben zwischen Einfamilienhaus oder Geschosswohnung, zwischen SUV oder Kleinwagen, Gas oder Wärmepumpe. Czisch anerkennt, wenn er öffentlich spricht, den Klimawandel, doch Zumutungen für Einzelne lehnt er ab. Seine Politik versteht er als Angebot; diejenigen, die restriktiveres Führungshandeln fordern, geraten bei ihm leicht in Verdacht, „Ideologen“ zu sein. Klimakleber sind für ihn, den Liebhaber automobiler Oldtimer, Demokratiefeinde; in seiner letzten Schwörrede diesen Sommer hat er sie explizit mit schwerem Tadel bedacht.

Ulm, Hotspot der Coronaleugner

Dumm nur: Das große Gewähren, die Rücküberweisung wichtiger Verantwortungsfragen ans Wählerindividuum, hat mit Ausbruch der Corona-Krise dazu geführt, dass Ulm wirklich zu einem südwestdeutschen Hotspot von Ideologen und Politikverächtern wurde. Mit einigen hundert „Spaziergängern“ fing es an, bald versammelten sich, weil es so schön wie sonst nirgends war, immer montags und freitags bis zu rund 4000 Leute, die überwiegend gar nicht aus Ulm stammten, zu den schönsten Trillerpfeifenmärschen. Versteht sich, dass diese Aufzüge nicht angemeldet waren, die Innenstadtstraßen blieben abends stundenlang blockiert, während die Polizei meist beobachtete. Hinter ihren Gardinen fragten sich manche Ulmer, gerade auch konservative, wohin es mit Recht und Ordnung gekommen sei.

Der Ex-OB Gönner und der evangelische Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl, damals noch Ulmer Dekan, waren es, und nicht Czisch, die dieser Menge bei einer Kundgebung im Januar 2022 auf dem Münsterplatz das Nötige entgegenriefen. Verbirgt sich hinter der libertären Agenda des Oberbürgermeisters, die Frage drängt sich auf, etwa auch eine Portion öffentlicher Konfrontationsscheu?

Herausforderer mit Startnachteilen

Eine unmittelbare Quittung der Ulmer „Spaziergänger“-Umtriebe ist nun, dass mit dem parteilosen Paffenhofener Daniel Langhans ein bekennender Querdenker und Verschwörungserzähler gegen Czisch antritt. Chancen, das zeigten die öffentlichen Kandidatenrunden, hat er nicht, ebenso wenig wie der parteilose Ulmer Comicladen-Betreiber Thomas Treutler, dem vor allem schlecht gemanagte innerstädtische Baustellen im Magen liegen. Die Schwergewichte unter den Herausforderern heißen Lena Schwelling, 31, grüne Stadträtin und zugleich Landesvorsitzende der Grünen, sowie Martin Ansbacher, 47, Rechtsanwalt, Fraktionschef der Ulmer SPD und in vielen städtischen Vereinen vernetzt. Beide sind tief drin in der Ulmer Stadtpolitik, haben durchdachte Ideen etwa zum Wohnungsbau, zur lokalen Wirtschaft oder zum sozialen Zusammenleben, beide sind in der freien Rede stärker als Czisch.

Doch ihnen haften Startnachteile an. Sie liegen in fehlender Führungserfahrung einer großen Verwaltung, aber noch mehr im Begriff Zusammenhalt, den sie beide positiv verinnerlicht zu haben scheinen. Auch sie, muss es heißen. Denn die Vokabel benutzt Czisch bevorzugt, er wendet sie aber appellativ nicht nur auf seine Bürgerschaft an, sondern auch auf seinen Gemeinderat. Einigkeit will der Rathauschef haben. Das ist aus seiner Sicht verständlich, es regiert sich so leichter. Fragt sich jedoch nicht erst in diesem Wahlkampf: Wo bleibt der Dissens, der zur demokratischen Entscheidungsfindung gehört, die positive Reibung, zumal in einer rasch weiter wachsenden Großstadt wie Ulm mit ihren disparater werdenden Milieus und Einzelinteressen?

Zusammenhalt, was soll das sein?

Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller, Professor an der Universität Princeton, hat die Forderung nach Zusammenhalt in der Politik kürzlich in einem Aufsatz in der „Zeit“ so kritisiert: „Der Zusammenhaltskitsch kleistert legitime Interessengegensätze zu und suggeriert, man habe schon etwas getan, wenn man sich um Zusammenhalt sorgt. Der Begriff ist nahe dran, aber eben nicht identisch mit Solidarität oder, moralisch noch höher gegriffen: Gerechtigkeit“. Die Fähigkeit zum „Aushalten“, so Müller, sei im politischen Geschäft deutlich wichtiger als das Zusammenhalten.

Es ließe sich, daran anschließend, ausführen, ein Gemeinderat, der es betont nett und kultiviert miteinander hat, ist deswegen noch lange kein nützlicheres Organ für die Bürgerschaft. Schwelling und Ansbacher sind aber Teil des Ulmer Wohlfühlstrebens. Das Rathaus wollen sie jeweils im Weg der freundlichen Übernahme erobern, gröbere Sottisen im Wahlkampf haben sie sich gegen den Amtsinhaber folglich nicht erlaubt, und wenn es nicht klappt, geht es in den alten Posten harmonisch weiter. Das hat ja, siehe Hessenwahl, fast etwas Faesereskes. Ob’s die Wählerschaft goutiert?

Kommt es zur Stichwahl?

So deutet viel darauf hin, dass Czisch seine zweite Amtszeit wird antreten können, auch wenn seine Zukunftsvision der Donaustadt kaum Konturen hat. Vor mehr als hundert Jahren spottete der Wiener Satiriker Karl Kraus: „Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll, Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung und Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst.“ Die Spülungen in Ulm funktionieren. Schon eine Stichwahl am 3. Dezember, die Andeutung einer Überraschung, wäre überraschend.