In den 1990er Jahren baute Tino Brandt den Thüringer Heimatschutz (THS) auf Foto: dpa

Der Neonazi Tino Brandt bezeugt vor dem Münchener Oberlandesgericht vor allem, dass er nichts wisse – auch zu einem rätselhaften Vermerk „Kiesewetter“

München - Es war nur ein Schreibblock. Doch die Notiz darauf war brisant: „Kiesewetter“ stand dort – der Name der am 25. April 2007 in Heilbronn mit einem Kopfschuss getöteten Polizistin. Aus den Zahlen, die das gekritzelte Wort umrahmten, konnten sich die Ermittler, die den Block bei einer Durchsuchung fanden, keinen Reim machen. Trotzdem prüften die Ermittler des Bundeskriminalamts (BKA) einen Zusammenhang zwischen dem Polizistenmord und den Morden, die dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) zur Last gelegt werden.

Auch die auf der Heilbronner Theresienwiese ermordete Polizistin Michèle Kiesewetter soll Opfer der mutmaßlichen Terrorgruppe geworden sein. Und die beschlagnahmte Notiz wurde in der Wohnung Michael K.s im thüringischen Rudolstadt gefunden – eines Freunds von Tino Brandt.

In den 1990er Jahren baute Tino Brandt den Thüringer Heimatschutz (THS) auf – jenen Zusammenschluss von Neonazi-Kameradschaften, dem auch die mutmaßlichen NSU-Terroristen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt angehörten. Gleichzeitig ist der heute 39-Jährige das Paradebeispiel für die unheilvolle Verstrickung deutscher Behörden in die rechte Szene. Von 1995 bis 2001 bezog er als „Vertrauensmann“ ein Gehalt des Thüringer Verfassungsschutzes – insgesamt etwa 200 000 Mark.

Jetzt sagte Tino Brandt zum dritten Mal als Zeuge im NSU-Verfahren aus. Das Ende des Verhandlungstags war schon abzusehen, als ihn der Nebenklageanwalt Yavuz Narin nach dem Schreibblock mit der kryptischen Notiz „Kiesewetter“ fragte. Brandt, im übergroßen grauen Sweatshirt, mit Brille und blondem Vollbart kaum wie ein ehemaliger Neonaziführer aussehend, antwortete: „Ich kann mir das überhaupt nicht erklären.“ Keine überraschende Antwort: Brandt ist einer der Zeugen im NSU-Verfahren, die sagen, sie könnten sich an vieles nicht mehr erinnern, und manches hätten sie nie gewusst. Mal ist Brandt präzise, mal wortkarg.

Bei seinem vorerst letzten Zeugenauftritt erzählte er von den Treffen mit seinen Führungsbeamten des Thüringer Verfassungsschutzes. Wöchentlich habe man sich getroffen. Über Jahre. „Man hat sich irgendwann mal geduzt.“ Die Geheimen hätten ihm Zeitungen aus der Antifa-Szene mitgebracht und ihn vor bevorstehenden Hausdurchsuchungen gewarnt. Das geht auch aus Unterlagen hervor, die unserer Zeitung vorliegen. Thüringer LKA-Fahnder schildern darin den Zustand von Brandts Wohnung bei einer Durchsuchung im Dezember 2000: „In seiner Bude stehen ein Bildschirm, ein Scanner und Computergehäuse ohne Festplatte und Laufwerk.“

Ein älterer Bericht der Kriminalpolizei in Coburg, wo Brandt zeitweise lebte, ist noch deutlicher: Brandt habe geäußert, dass er schon darauf gewartet habe, Besuch von der Polizei zu bekommen, und dass man nichts finden werde.

Trotz des vertraulichen Verhältnisses zwischen dem Spitzel und den Staatsdienern konnte sich Brandt an seine Führungsoffiziere nicht mehr erinnern: „Ich kann keine Namen mehr zuordnen.“ Selbst als ein Opferanwalt ihm Bilder ehemaliger V-Mann-Führer zeigte, blieb Tino Brandt dabei: „Kann sein, ich weiß es nicht mehr.“

Nach dem Untertauchen der mutmaßlichen NSU-Terroristen Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt habe die Behörde mit „Extraprämien“ um Hinweise geworben. Er selbst habe sich von diesem Thema allerdings „so weit wie möglich weg gehalten“, um sich als Quelle nicht zu gefährden. An monetärer Zuwendung scheint es dem fleißigen Neonazi-Aktivisten nicht gemangelt zu haben: Brandt zählte auf, wofür er zusätzlich zum Spitzelsold noch Geld vom Staat bekommen habe: Für Rechnungen von Rechtsanwälten, für Computer, für Handys, für Telefonate, Taxis und Hotels. Er sei jedes Wochenende unterwegs gewesen.

Auch bei anderen Fragen, die auf sein Interesse für Waffen abzielten, machte Brandt dicht. Das Buch, das er in der Schweiz bestellt habe soll, sei eine „Fehllieferung“ gewesen. Nach Recherchen unserer Zeitung fing das Zollamt im fränkischen Coburg im Januar 1996 eine Büchersendung Brandts ab. Inhalt: zehn Exemplare des in Deutschland verbotenen Buches „Der totale Widerstand – Kleinkriegsanleitung für jedermann“. Die Polizei ermittelte einige Monate gegen den Neonazi. Einem Aktenvermerk nach leitet das Buch „detailliert zur Tötung von Menschen, Bau von Brandsätzen, Splitterbomben und Sprengsätzen“ an.

Brandt beteuerte, mit solchen Methoden nichts zu tun gehabt zu haben. Ihm sei es um „politische Arbeit“ gegangen, und er habe „an die Bewegung geglaubt“. Worum es dieser ging, machte Brandt deutlich, als er auf seine Haltung zu in Deutschland lebenden Türken angesprochen wurde: „Ich bin nach wie vor für eine Familienzusammenführung im Heimatland.“ Das Gericht verließ Brandt gefesselt in Begleitung von Polizisten: Seit Juni ist er wegen des Verdachts des Kindesmissbrauchs inhaftiert.