Bei „Anne Will“ kochten am Sonntag die Emotionen hoch – Norbert Röttgen gehörte zu den sachlicher argumentierenden Talkshowgästen (Archivfoto). Foto: ARD Das Erste/NDR/Wolfgang Borrs/ARD Das Erste

Im ARD-Talk schildert eine Journalistin die Leiden im Gaza – und Israels Botschafter ist sprachlos.

Die Wut in einer Kriegsregion einzudämmen, das ist schwierig. Auch in der ARD-Talkrunde von Anne Will am Sonntagabend schwappten Zorn und Empörung zum Hamas-Israel-Konflikt bei den Studiogästen ziemlich hoch, und die Leitfrage der Moderatorin, wie und ob die Wut denn eingedämmt werden könne, fand rasch eine klare Antwort: eher nicht, das gelingt ja nicht mal im Studio. Die Stichworte hatte Anne Will schon vorgegeben: So hatte der jordanische Außenminister gewarnt, „die Wut“ dürfe nicht die Zukunft einer ganzen Region bestimmen und auch US-Präsident Joe Biden hatte gemahnt, sein Land habe nach dem Terroranschlag von 9/11 solch eine Wut verspürt, dass es Fehler gemacht habe.

Wut schwappt auch ins Studio

Die große Empörungswelle bei Anne Will erhob sich, nachdem die Politikwissenschaftlerin Hoda Salah (Uni Kiel), die für die „taz“ am Telefon Palästinenser im Gaza-Streifen interviewt hatte, zunächst von der klaren Verurteilung des Hamas-Anschlags durch „die meisten arabischen Staaten“ gesprochen hatte. Der Islamismus sei übrigens ein Fehlschlag in der arabischen Welt gewesen und es „ärgere“ die Leute im Gaza, die unter der Hamas gelitten hätten, dass sie jetzt mit dem Entzug von Wasser und Nahrung durch Israel „kollektiv“ von Israel doppelt bestraft werden würden. Auch die arabische Welt habe vier Tage lang nach dem 7. Oktober Solidarität mit Israel gezeigt, das habe sich aber erst geändert, als Israel die Bewohner im Nord-Gaza zum Verlassen ihrer Häuser binnen 24 Stunden aufgefordert habe.

Am meisten bewegt in ihren Interviews hätten sie die Zitate von Frauen die sagten, selbst wenn das Wasser wieder da sein sollte, sie würden sich nicht trauen, zum Duschen zu gehen. Es könne ja sein, dass in diesen Minuten dann „ihre Kinder bei Luftangriffen“ durch Israel sterben. „Gibt es denn keine andere Lösung als eine Kollektivstrafe für zwei Millionen Menschen im Gaza?“ fragte Hoda Salah.

Geschichten aus 1001er Nacht

Die Israelis in der Talkrunde widersprachen Salahs Äußerungen empört. Israels Botschafter Ron Prosor sagte, dass es keine klare Verurteilung der arabischen Welt auf den Terror gegeben habe: Weder vom jordanischen König, noch vom ägyptischen Präsidenten oder der Palästinenserführung. „So etwas zu behaupten, ist eine Verharmlosung, das sind Geschichten aus 1001er Nacht!“ Auch der Sprecher der israelischen Armee, Arye Sharuz Shalicar, zugeschaltet aus Israel, äußerte sich empört über das „Gerede von der Kollektivstrafe“: „Das ist skandalös, was ich mir hier anhören muss.“ Es gehe dem jüdischen Staat um die Terrorbekämpfung und der habe das Recht, sich und seine Existenz zu verteidigen.

Anne Will bleibt cool

Moderatorin Anne Will ließ sich von den Emotionen nicht beeindrucken und hakte nach: Ob es denn stimme, was auch UN-Vertreter behaupteten, dass auch auf den Süden des Gaza – wohin laut Israel die Nord-Gaza-Bewohner umsiedeln sollen, damit sie in Sicherheit sind – Luftangriffe geflogen werden. Shalicar sagte, dass das Hauptquartier der Hamas im Norden in der Stadt Gaza-City sei. Im Süden sei das regional sehr unterschiedlich, aber auch da gebe es Teile, von denen aus die Hamas Raketen abschieße.

Stimmung extrem aufgeheizt

Pro-Israel, Pro-Palästinenser – bei allen Antipoden in der Sendung war es dann doch wohltuend, die Meinungen von drei sachlich-neutralen Experten und Expertinnen zu hören. Da war zum einen der „Zeit“-Journalist Yasin Musharbash, der gerade von einer Jordanien-Reise zurück gekehrt war und berichtete, dass die Stimmung in der Bevölkerung dort „extrem aufgeheizt“ sei. Er sehe es nicht, wie die „Wut“ auf Israel da eingedämmt werden könnte. Die Hälfte der Menschen in Jordanien, so hieß es später, seien ja Palästinenser. Auch in Ländern wie Tunesien sei der Zorn immens, und Musharbash wies auf den Fall in der Stadt El Hamma hin wo, eine jüdische Synagoge von wütenden Menschen abgefackelt worden ist. Die Stimmung könne jederzeit kippen und sich gegen die jeweiligen Machthaber richten.

Das Kalkül der Hamas

Das sah der CDU-Bundestagsabgeordnete Norbert Röttgen, außenpolitischer Experte seiner Fraktion, ähnlich: Falsche Berichte, etwa über die Urheberschaft der Explosion auf ein Krankenhaus im Gaza-Streifen, stachelten die Wut gegen Israel an. Keine arabische Regierung wolle „einen Flächenbrand“ durch den Hamas-Israel-Konflikt. Und die Annäherung einiger Staaten der Region an Israel sei nie ein Anliegen der Bevölkerung gewesen, die zu 90 oder 95 Prozent mit der Sache der Palästinenser empfänden: „Diese Regierungen, die die Annäherung mit Israel wollten, geraten jetzt aber unter extremen Druck.“

Röttgen analysierte auch sehr eindeutig die Strategie der Hamas: Die Terrororganisation habe die Palästinenser im Gaza „in Kollektivhaft und als Geisel“ genommen. Sie wolle sogar, dass möglichst viele Palästinenser durch israelische Militärschläge sterben, damit „die Rage“ gegen das Land noch ansteige und ein Flächenbrand ausgelöst werde. Israel sei durch diese Strategie in einem Dilemma, denn es müsse ja seine Sicherheit wieder herstellen. „Hier geht es um die Existenz Israels. Eine oberste Vision der Hamas ist es, Israel zu zerstören.“

Offensive – ein blutiges Unterfangen

Aber hilft ein Militärschlag wirklich weiter, die lang erwartete Bodenoffensive im Gaza? Die Militärexpertin Florence Gaub wies darauf hin, dass sich die Hamas „in einem zivilen Umschlag“ versteckt habe und sie da aus den Minen, Sprengfallen und Tunneln herauszuholen, das werde ein „sehr schwieriges und blutiges Unterfangen“. Israel sei sich der Risiken voll bewusst, das zeige auch, dass es nicht mit dem „Hauruckverfahren“ in den Gaza hineingehe und zunächst mal auf nachrichtendienstliche Aufklärung setze. Gaub zog Parallelen zum Nordirland-Konflikt, wo Großbritannien gegen die IRA kämpfte, die sich in der Zivilbevölkerung verschanzt hatte. Es sei erst durch ein „politisches Settlement“ sowie eine Entsolidarisierung der Zivilisten mit den Terroristen gelungen, einen Friedensprozess zu starten. „Aber dafür braucht man Jahre!“

Auch der „Zeit“-Journalist Musharbash ließ indirekt durchblicken, das eine militärische Bodenoperation vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss sei. Er zitierte eine neuere Studie, wonach der Kampf gegen den Terrorismus am besten über politische Absprachen, Kompromisse, das Anstoßen eines Friedensprozesses, nachrichtendienstliche Tätigkeit und Polizeiarbeit gelinge, weniger aber durch militärische Aktionen. Es gebe jetzt schon Äußerungen aus Israel, die auf eine „hohe Zahl“ von zivilen Opfern hinwiesen, die bei einem Militärschlag in Kauf genommen werden müssten: „Das macht mir Sorgen.“ Viele Fragen seien offen, auch, ob die Hisbollah im Libanon bei einer Eskalation „eingreifen“ und in einen neuen Krieg eintreten würden.

Bedenken vor dem Studio-Auftritt

Zwei frappierende Momente in der Runde gab es auch. Zum einen die Sprachlosigkeit, mit der Israels Botschafter Prosor auf die Fragen von Moderatorin Will aber auch von Expertin Gaub reagierte, was denn „danach“ im Gaza – nach der geplanten Zerstörung der Hamas – kommen werde, was denn Israels „politisches Ziel“ sei. „Unsere oberste Priorität ist es, die Führung und die Infrastruktur der Hamas zu zerstören“, sagte Ron Prosor. Die Frage nach dem politischen Ziel entstamme dem „akademischen Bereich“. „Wir Israel will wollen nie wieder einen 7. Oktober erleben.“

Und aufhorchen ließ auch das Bekenntnis von Hoda Salah, dass sie Bedenken gehabt habe, in die ARD-Talkrunde zu kommen und ihre Freunde sie gewarnt hätten, dass „die kriegstreibenden Gruppen mir da keine Chance lassen.“ Sobald man auf das Leiden von Palästinensern hinweise, werde die „Keule des Antisemitismus“ geschwungen, sagte die in Kairo geborene Salah. Anne Will entgegnete, dass sie froh sei, dass sie gekommen sei: „Dieser Krieg, der hat so viele Ebenen.“