Als Übersetzerin beim Auschwitzprozess erfährt Eva Bruhns (Katharina Stark) Erschütterndes. Foto: Krzysztof Wiktor/Disney/Gaumont

Zehn Minuten lang sieht der Disney-Fünfteiler „Deutsches Haus“ wie das übliche Wirtschaftswunderwohlfühlfernsehen aus. Dann wird die Realfiktion der Auschwitzprozesse zum Besten, was das Genre je geleistet hat.

Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, das wusste schon Österreichs Nationalsatiriker Karl Kraus, werfen selbst Zwerge lange Schatten. Nun war sein Zeitgenosse Hitler samt dessen Führungselite um Himmler und Goebbels tatsächlich erstaunlich oft von geringem Wuchs. Doch wer in den Gerichtssaal in der neuen Serie „Deutsches Haus“ des Streamingdienstes Disney+ blickt, sieht auf der Anklagebank hünenhafte Nazis wie Wilhelm Boger und Robert Mulka – frühere SS-Schergen im Vernichtungslager Auschwitz, die Schatten werfen so hoch wie Schornsteine.

Neben 19 Mittätern sitzen, nein: thronen hier NS-Verbrecher fünf Serienteile lang vorm Frankfurter Landgericht. 19 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers von seiner Schreckensherrschaft tun sie so, als ginge sie das alles nichts an – Millionen gequälter Menschen, von denen ein paar nur wenige Meter entfernt im Gerichtssaal Zeugnis ablegen übers Unbeschreibliche. 1963 wurde ihnen in der alten Bundesrepublik der Prozess gemacht. Davon handelt diese Serie.

„Deutsches Haus“ ist akkurat.

Wobei „unbeschreiblich“ schon einiges aussagt über die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Annette Hess. Die Unbeschreiblichkeit brauner Verbrechen sorgt seit Langem dafür, dass Fiktionalisierungen oft drastisch, öfter seifig werden, also selten akkurat. „Deutsches Haus“ ist akkurat. Mehr noch: Das biografische Historytainment der Autorin, die mit der ZDF-Erfolgsserie „Ku’damm 53–59“ buchstäblich Nachkriegsgeschichte schrieb, stellt alles in den Schatten, was je zum Thema gedreht wurde.

Unter der Regie von Isabel Prahl und Randa Chahoud erschafft „Deutsches Haus“ Beispielloses: ein hochpolitisches Justizmelodram, das anrührt, ohne rührselig zu sein, und lehrreich ist, ohne zu belehren. Das Emotionen aufwühlt, nicht unterwandert, und Fakten analysiert, statt konstruiert. Das Verantwortliche hart rannimmt, aber auch ihre Opfer nie mit Wattehandschuhen anfasst. Das, in einem Wort, trotz aller Gefühle sachlich bleibt, aber nie subjektiv wird.

Dafür nutzt Annette Hess den Zaubertrick zeitgeschichtlicher Unterhaltung: Sie sucht menschliche Statt- oder Steigbügelhalter und findet sie im wichtigsten Nukleus sozialer Interaktion: Vier Familien führen durch die Geschichte.

Hier der fiktive Gastwirt Ludwig Bruhns (Hans-Jochen Wagner), dessen Tochter Eva (Katharina Stark) den ersten Auschwitzprozess als Übersetzerin begleitet. Dort der reale SS-Oberscharführer Wilhelm Boger (Heiner Lauterbach), dessen Frau auch bei Haftbesuchen den Anschein von Normalität zu wahren versucht. Hier der fiktive Unternehmer Schoormann (Henry Hübchen), dessen erzkonservativer Sohn (Thomas Prenn) Eva heiraten und kleinhalten will. Dort der reale SS-Hauptsturmführer Robert Mulka (Martin Horn), dessen Frau mit ihm wohlgelitten im Vier Jahreszeiten residiert, während aussagewillige Opfer wie Rachel Cohen (Iris Berben), weiter antisemitisch verachtet, in billigen Hotels hausen. Das „Deutsche Haus“ der Wirtschaftswundersippe Bruhns steht stellvertretend für die Gesellschaft im Ganzen.

Mal seelenwunde, mal selbstgerechte Figuren

In deren Dach-, Zwischen-, Kellergeschossen leben alle, die nicht so nett, adrett, gut-bürgerlich sind wie Evas Eltern. Die Prostituierte Sissi (Alice Dwyer) etwa, von der sich Staatsanwalt Miller (Aaron Altaras) Erholung vom Zynismus der Angeklagten erhofft, oder die Krankenschwester Annegret (Ricarda Seifried), die ihr Kriegstrauma im Bett des Stationsleiters kompensiert. Es sind mal seelenwunde, mal selbstgerechte Figuren, die so schwer schleppen an allerlei Geheimnissen diktatorischer Zeiten durch nachfolgende demokratische wie der spöttische Strafverteidiger Jerichow (Sabin Tambrea) an seinen Entlastungsakten.

Charaktere wie er sind durch Prozessprotokolle belegbar oder Abstraktionen realer Figuren. Eva Bruhns zum Beispiel hat Annette Hess ihrer Mutter nachempfunden, „die völlig naiv nur Ehemann, Kinder, ein Heim im Fokus hatte“ und vom „Holocaust“ erst in der gleichnamigen US-Serie umfassend erfahren haben will. In „Deutsches Haus“ darf sie ihren Erkenntnisgewinn als Dolmetscherin stellvertretend fürs Land 16 Jahre früher nachholen. Katharina Starks Auftritte sind die famoseste Schauspielleistung einer grandiosen Inszenierung – ohne Theaterdonner in musealer Ausstattung, der Geschichtsfernsehen oft unerträglich macht. Könnten Emilia Schüle oder Alicia von Rittberg ebenso gut Polnisch, wären sie wohl als Dolmetscherin gecastet worden. So verhilft ihr die junge Bayerin zur trotzig-traurigen Mischung aus Energie und Entsetzen, die den Fünfteiler außergewöhnlich macht.

Fünf ungeschnittene Minuten lang folgt die Kamera der Anklageverlesung, während Edith Bruhns (Anke Engelke) in der Küche lieber schnell das Radio abdreht, falls der Reporter davon berichtet. Ein Wärter raunt dem Häftling Boger vorm Prozess zu: „Sie stehen das hocherhobenen Hauptes durch“, während Eva Zeugen falsch übersetzt, weil sie deren Berichte vom „Vergasen“ nicht glauben kann. Cast und Regie, Schnitt und Musik – alle stellen sich in den Dienst einer unfassbaren Erzählung von unprätentiösem Unterhaltungswert – die wichtigen Fernsehpreise 2024 sind mit dieser Serie wohl bereits vergeben.

Der Holocaust in Film und Fernsehen

Historytainment
Seit „Die Geschichte der Familie Weiss“ den Holocaust 1979 ins deutsche Gedächtnis holte, sind NS-Verbrechen Film- und Fernsehthemen. Während der ZDF-Historiker Guido Knopp Schuldfragen so verdrehte, dass Deutsche in (Doku-)Dramen von „Dresden“ bis „Die Flucht“ oder zuletzt „Ein Hauch von Amerika“ zu Opfern einer Handvoll fieser Nazis wurden, sind Biopics wie „Nicht alle waren Mörder“ deutlich differenzierter. Auch sie scheitern aber am Harmoniebedürfnis hiesigen Historytainments. Dass es in „Deutsches Haus“ virtuos untergraben wird, liegt an Katharina Stark. Könnten Emilia Schüle oder Alicia von Rittberg ebenso gut Polnisch, wären sie wohl als Dolmetscherin gecastet worden. So verhilft ihr die junge Bayerin zur trotzig-traurigen Mischung aus Energie und Entsetzen, die den Fünfteiler außergewöhnlich macht.

Deutsches Haus
Annette Hess: „Ich habe zum Prozess nichts hinzuerfunden, nur aus 400 Stunden Tonbandaufnahmen und 500 Seiten Anklageschrift extrahiert, um die Menge der Verbrechen spürbar zu machen. Aus elf Verteidigern wurden drei, aus anderthalb Jahren eines. Zahl und Namen der Angeklagten sind bis auf einen authentisch. Familie Bruhns dagegen ist fiktiv, aber einer anderen nachempfunden.