Bradley Cooper als Leonard Bernstein Foto: dpa/Jason McDonald

Mit seinem Biopic „Maestro“ ist Bradley Cooper ein großer Coup gelungen: Er spielt und inszeniert Leonard Bernstein in all seiner komplexen Widersprüchlichkeit – zwischen extrovertiertem Star und introvertiertem Künstler. Der Produzent Netflix hofft auf Oscars.

Das Zimmer ist dunkel. Nur an den Seiten der Vorhänge dringt ein wenig Licht herein. Das Telefon klingelt, und Leonard Bernstein (Bradley Cooper) meldet sich mit verschlafener Stimme. Aber schon wenige Sekunden später ist der Mann hellwach, springt aus dem Bett, reißt die Vorhänge auf, trommelt mit beiden Händen auf dem nackten Hintern seines Geliebten, rennt die Stufen eines gewundenen Treppenhauses hinunter, stößt die Tür auf – und steht spärlich bekleidet auf der Empore eines riesigen, leeren Konzertsaales.

 

Nahezu nahtlos, in expressiven Schwarz-Weiß-Aufnahmen, hat Bradley Cooper in seinem Film „Maestro“ diese dynamische Sequenz inszeniert, die nicht nur direkt vom warmen Bett ins Auditorium führt, sondern auch den Anfang des kometenhaften Aufstieges für den Dirigenten und Komponisten Leonard Bernstein markiert. Gerade einmal 25 Jahre alt ist Bernstein, als er ohne Probe im November 1943 für den erkrankten Dirigenten der New Yorker Philharmoniker einspringt. Das Konzert in der Carnegie Hall wird zum Triumph für den Musiker, dessen Interesse nicht nur der klassischen Musik gilt, sondern auch dem Komponieren von Musicals à la „West Side Story“ (1957).

Er hängt an ihren Lippen

Aber die legendäre Karriere des Genies bildet in Coopers „Maestro“ nur die Hintergrundmusik für ein atypisches Biopic, das sich auf die Liebesbeziehung zwischen Bernstein und seiner Ehefrau Felicia Montealegre konzentriert. Als der Dirigent und die Schauspielerin sich auf einer Party begegnen, ist es ein Verliebtsein auf Augenhöhe. Er hängt an ihren Lippen, wenn sie nachts ins Theater einbrechen und sie ihm eine Szene vorspielt. Sie ist fasziniert von der Energie seiner Musicals. Und hier hebt der Film gleich noch einmal ab, wenn die auf der Bühne herumwirbelnden Matrosen Leonard erotisch in ihre Reihen aufnehmen und Felicia im Tanz immer wieder von ihrem Geliebten abdrängen.

Sie wisse, wer er sei, bekräftigt Felicia, als sie beschließen zu heiraten. Gemeint ist nicht nur das künstlerische Genie, sondern auch ein Mann, der seine Bisexualität nach der Hochzeit nicht aufgeben wird. „Ich will viele Dinge“, sagt Bernstein und versucht, all seine Bedürfnisse und Talente gleichzeitig auszuleben: Dirigent, Komponist und Lehrer, liebender Vater und koksender Partyhengst, heterosexuelle Normalität und schwule Leidenschaft, introvertierter Künstler und extrovertierter Star. Felicia, die auch mit drei Kindern ihre Karriere als Schauspielerin nie aufgegeben hat, hält lange an einem pragmatischen Beziehungskonzept fest, in dem gegenseitige Loyalität wichtiger ist als sexuelle Treue – bis die Erosionskräfte doch zu stark werden. In einer furiosen Streitszene werden die Gefühle zur kontrollierten Explosion gebracht, während die Kamera ruhig in der Totalen verweilt und am Fenster ein riesiger Snoopy-Luftballon von einem vorbeifahrenden Festumzug hereinschaut.

Künstlerische Egozentrik und depressive Abstürze

Nach seinem Regiedebüt „A Star Is Born“ (2018) ist Bradley Cooper mit „Maestro“ ein zweiter großer Coup gelungen. Wie seine Titelfigur will auch Cooper, der hier als Regisseur, Drehbuchautor, Produzent und Hauptdarsteller verantwortlich zeichnet, viele Dinge zugleich und vor allem eines nicht: einen blinden Lobgesang auf ein Genie und dessen außerordentliche Karriere. Cooper spielt und inszeniert Bernstein in all seiner komplexen Widersprüchlichkeit. Das Spektrum reicht von der ansteckenden Vitalität, dem Verschmelzen mit der Musik und einem großen Herzen für seine Mitmenschen bis hin zu künstlerischer Egozentrik und depressiven Abstürzen. Zugleich gelingt es dem Regisseur Cooper, sich nicht von der Geniefaszination überwältigen zu lassen, indem er die Figur der Felicia als gleichberechtigtes Epizentrum aufbaut. Carey Mulligan ist fantastisch in der Rolle der Ehefrau, die sich sehenden Auges in die Beziehung begibt und mit emotionaler Klarheit ihr Selbstwertgefühl behauptet.

Lebendiger Inszenierungsstil

„Maestro“ erzählt nicht die alte Mär vom übermächtigen Genie und der wehrlosen Muse, sondern von einem Liebespaar, das durch alle Widrigkeiten hindurch um die Loyalität zueinander ringt. Dass daraus kein eheliches Trauerspiel wird, liegt an Coopers lebendigem Inszenierungsstil, der das Kino – genauso wie Bernstein seine Musik – als sinnliches Medium begreift. Je nachdem, in welchem Jahrzehnt sich die Handlung gerade befindet, verschreibt sich der Film der Schwarz-Weiß-Ästhetik und Erzähldynamik klassischer Screwball-Komödien aus den 40er Jahren, um sich später mit satten Farben und einem vergrößerten Ensemble beim Naturalismus früher Robert-Altman-Filme zu bedienen. Bei den Filmfestspielen in Venedig sorgte die Netflix-Produktion für Furore; bei den anstehenden Oscars dürfte Cooper als Regisseur und als Darsteller Chancen haben.

Maestro. Ab 6.12. im Kino, ab 20.12. bei Netflix. Regie: Bradley Cooper. Mit Bradley Cooper, Carey Mulligan. 129 Minuten, ab 12