Forscher am Naturkundemuseum Stuttgart entdecken neue Insektenart aus Zeit der Dinosaurier.

Stuttgart - "Ein völlig verrücktes Tier" habe er plötzlich in den Händen gehalten, erinnert sich Günter Bechly, als er 2007 einen Bestand an fossilen Insekten im Museum für Naturkunde Stuttgart untersuchte. Bechly ist Paläontologe und spezialisiert auf Libellen. Doch das konnte keine Libelle sein, da war sich der Wissenschaftler sicher. "Es hat die Brust einer Libelle, aber die Fangbeine einer Gottesanbeterin und die Flügelstruktur einer Eintagsfliege, ich wusste gleich, dass es etwas ganz Besonderes ist."

Davon war auch sein Kollege im Naturkundemuseum, der Insektenforscher Arnold Staniczek, bald überzeugt. Gemeinsam wurde ihnen klar, dass sie es mit einem bis dahin völlig unbekannten Tier zu tun hatten. Sie nannten es Chimärenflügler. Das merkwürdige Geschöpf unterscheidet sich so sehr von allem, was man bisher kannte, dass es sogar auf einer Stufe steht mit den Schmetterlingen und Käfern. Es könnte demnach noch zahlreiche andere Varianten des Chimärenflüglers gegeben haben.

Fachwelt streitet sich um Flug-Frage

Doch das ist nicht die einzige Sensation. Der Fund könnte erklären, wie die Insekten fliegen lernten. Die Frage ist in der Fachwelt seit langem umstritten. Eine Theorie geht davon aus, dass sich die Rückenplatten der Insekten zunächst zu starren Tragflächen auswuchsen. Die Tiere hätten damit höchstens einen Sturz abbremsen können. Ungeklärt war die Frage, wie sich diese starren Rückenplatten zu beweglichen Flügeln weiterentwickeln konnten. Eine zweite Theorie geht davon aus, dass sich die Flügel aus dem Bauch heraus entwickelten und nach dem Vorbild der Beine bereits beweglich waren. Bisher gab es weder für die eine noch für die andere Vermutung Beweise.

Die Panzer aller bekannten flugfähigen Insekten sind so zusammengewachsen, dass man nicht sehen kann, ob die Flügel aus dem Bauch oder aus dem Rücken entstanden sind. Das sieht nun anders aus, denn die Stuttgarter Forscher konnten belegen, dass es sich bei einem anderen bereits bekannten Fossil um die Larve des Chimärenflüglers handelt. Bei ihr lassen sich Rücken- und Bauchpanzer deutlich unterscheiden. Durch den Vergleich zwischen Larve und ausgewachsenem Tier konnten die Wissenschaftler zeigen, dass sich die Flügel aus den Rückenplatten heraus entwickelten. Die Larven lebten einst im flachen Wasser, wo sie, im sandigen Grund verborgen, nach vorbeiziehenden Beutetieren schnappten.

Die Fangbeine der Larven sind bereits so deutlich ausgeprägt, dass Arnold Staniczek sie ohne weiteres dem Chimärenflügler zuordnen konnte. Auch die charakteristischen Flügel ließen sich bei den Larven wiedererkennen, sie sind noch nicht vollständig entwickelt, aber ihr Ansatz befindet sich deutlich an den Rückenplatten.

Beinartige Auswüches am Kopf - nicht gerade ein Vorteil

"Ihre Beweglichkeit haben die Flügel dennoch aus den Beinen erhalten" sagt Bechly. Er ist überzeugt, dass zwischen Beinen und Flügeln ein Gentransfer stattgefunden hat. "Die Flügel haben die Gene der Beine sozusagen ausgeborgt", sagt der Paläontologe. Tatsächlich gibt es Mutationen in der Insektenwelt, bei denen einzelnen Tieren beinartige Auswüchse aus dem Kopf sprießen. Das sei nicht gerade ein Vorteil, sagt Bechly, es zeige, dass es zu einem Gen-Transfer kommen kann. So könnte es auch bei der Flügelentwicklung der Insekten gewesen sein.

Dass es aber weiter Zweifel gebe, sei das Wesen der Wissenschaft, sagt Bechly. Die Forscher wollen sich auch in Zukunft mit der Entstehung des Insektenflügels beschäftigen. Sie werden nicht die Einzigen sein, die den Wahrheitsgehalt ihrer Theorie überprüfen werden. Die Kunde von der bahnbrechenden Entdeckung hat längst ihre Kreise gezogen. "Die Reaktionen der Fachkollegen von den USA bis Australien waren überwältigend, einige wollen sich direkt mit dem Thema befassen", freut sich Staniczek.

Bechly und Staniczek haben ihre Entdeckung nun in einer Publikation der Öffentlichkeit und der Fachwelt zugänglich gemacht. In einer Sonderausgabe der Fachzeitschrift "Insect Systematics & Evolution" kann der Artikel online gelesen werden. Für den interessierten Laien genügt es, das "völlig verrückte Tier" einmal in natura anzuschauen. Der Chimärenflügler und seine Larve sind bis Ende August in einer Sondervitrine im Museum am Löwentor zu sehen.

www.naturkundemuseum-bw.de