Neue Bewährungsprobe: VfB-Verteidiger Antonio Rüdiger Foto: Baumann

Das Dilemma ist seit langem bekannt, Abhilfe ist nicht in Sicht: Wo sind in der Nationalelf die Alleskönner auf Außen? Beide Abwehrseiten sind ein Problem – die Folge einer verfehlten Ausbildung.

Gelsenkirchen - Es ist ja nicht so, dass Joachim Löw das Problem nicht erkannt hätte. Oder dass er die Hände in den Schoß legen würde – im Gegenteil: Rund 30 Spieler hat der Bundestrainer auf beiden Seiten über die Jahre getestet. Ein Kracher war nicht dabei. Was kaum verwundert: Benedikt Höwedes und Heiko Westermann sind gelernte Innenverteidiger, Lars Bender ist im Mittelfeld heimisch, Sebastian Rudy ebenso, Antonio Rüdiger spielt beim VfB Stuttgart Innenverteidiger, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Andere sind durch ihre Clubs mit der Außenposition vertraut und überzeugen dennoch nicht. Den Dortmunder Marcel Schmelzer hat Löw einmal zurechtgestutzt, indem er sagte: „Wir haben wenig Alternativen, darum müssen wir mit ihm weitermachen.“

Bei der WM setzte Löw in seiner Not vier Innenverteidiger in der Viererkette ein. Das war gewagt, ging aber gut. Der Rücktritt von Philipp Lahm, dem einzigen deutschen Außenverteidiger mit Weltklasseformat, hat nun eine Lücke gerissen, die „nicht auf die Schnelle“ (Löw) zu schließen ist.

Die Not ist groß, das Angebot knapp. Auch Rüdiger (rechts) und Erik Durm (links), ein gelernter Stürmer, ernteten beim 0:2 in Polen keine Jubelstürme, dennoch sind sie „die erste Option“ für Löw: „Beiden gebe ich viel Zeit. Rüdiger spielt körperbetont und ist schnell, zweikampf- und kopfballstark. Aber man kann nicht erwarten, dass er offensiv gleich die Akzente setzt, die wir uns auf dieser Position wünschen.“ Durm und Rüdiger stehen auch in der EM-Qualifikation gegen Irland an diesem Dienstag (20.45 Uhr/RTL) in Gelsenkirchen in der Startelf. „Im November sind sie gegen Gibraltar und Spanien auch dabei“, hat Löw angekündigt.

Was die Suche so schwer macht? Ganz einfach: Die Anforderungen an die Außenverteidiger sind so komplex wie auf keiner anderen Position. Sie müssen sicher stehen, robust verteidigen, Zweikämpfe gewinnen. Sie müssen aber auch offensiv glänzen, flanken oder nach innen ziehen und mittels Dribblings und Doppelpässen den Weg zum Tor öffnen. Wenn die Post wieder nach hinten abgeht, sollen sie die Ersten sein, die ins Kopfballduell gegen den Stürmer gehen. Sie müssen Alleskönner sein – mindestens.

Die ganze Welt beneidet Deutschland um sein ausgeklügeltes Ausbildungssystem, überdurchschnittliche Außenverteidiger bilden die Nachwuchszentren aber nicht heran. „Die Vereine haben lange Zeit die Notwendigkeit der Spezialisierung auf diesen Positionen nicht ausreichend erkannt“, sagt Rainer Adrion. Der VfB-Jugendleiter weiß, wovon er spricht: Als U-21-Bundestrainer musste er den Mangel einige Zeit mitverwalten: „Die Zahl solcher Multifunktions-Typen in der Bundesliga ist überschaubar.“

In der größten Not zur Jahrtausendwende, als die Nationalmannschaft sportlich darniederlag, war der Bedarf an Stürmern und zentralen Mittelfeldspielern besonders groß. „Deshalb wurden die besten Talente in die Zentrale gezogen, wo sie am meisten Einfluss auf das Spiel haben“, sagt Frank Wormuth, der Chefausbilder des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Jetzt hat Löw im Mittelfeld Top-Personal im Überfluss: Mesut Özil, Mario Götze, Marco Reus, Toni Kroos, André Schürrle. „Andere Positionen hat man damals vielleicht vergessen“, bedauert Teammanager Oliver Bierhoff.

Auch der VfB setzt meist auf ausländische Außenverteidiger, seit Andreas Beck und Roberto Hilbert den Verein verlassen haben, doch das ändert sich gerade wieder. „Wir haben unser Ausbildungskonzept umgestellt“, sagt Rainer Adrion, „wir arbeiten jetzt sehr intensiv daran, Außenverteidiger auszubilden.“ Beim VfB II sind Steffen Lang (21/rechts) und Tim Leibold (20/links) Stammspieler. „Auch in den U-Mannschaften haben wir die Spezialisierung eingeleitet“, versichert Adrion.

Joachim Löw hilft das aktuell nicht weiter. „Wir werden bis zur EM 2016 eine gute Lösung hinbekommen“, versichert er. Zunächst setzt er weiter auf Rüdiger und Durm. Zum Kandidatenkreis zählen Höwedes (Schalke), Sebastian Rudy (Hoffenheim), Sebastian Jung (Wolfsburg), die Freiburger Christian Günter und Oliver Sorg, Matthias Ginter (Dortmund) sowie der Gladbacher Julian Korb. Nach weiteren Kandidaten forscht Hansi Flick. Der DFB-Sportdirektor geht gezielt in die Vereine, um das Thema mit den U-Trainern zu besprechen. Nächste Woche hat er einen Termin beim VfB.