Warum Neubausiedlungen wenig zeitgemäß sind und welche architektonischen Konzepte einer diversen, bunten und alternden Gesellschaft stattdessen Rechnung tragen, sagt Markus Müller, Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg, im Interview.
Stuttgart - Man sollte nicht immer neu bauen, es geht vielmehr darum, die schon bestehenden Bauten zu sanieren oder sinnvoll umzuwidmen. Dazu braucht es allerdings Mut – und politischen Willen. Das sagt Markus Müller von der Architektenkammer Baden-Württemberg im Interview.
Herr Müller, auch wenn Neubausiedlungen auch wegen Flächenverbrauch zuletzt in die öffentliche Kritik geraten sind, verstehen Sie den Traum vom Eigenheim?
Ja. Es gibt anthropologische Studien, die zeigen: Der Mensch ist ein soziales Wesen und zugleich ein Individuum, das Bedarf nach Rückzugsorten hat. Den Wunsch nach einem Eigenheim würde ich nicht diskreditieren. Man muss aber fragen dürfen, welche Probleme sich an anderer Stelle durch die vielen Neubauviertel ergeben.
Und welche sind das?
Je älter die Menschen werden, desto höher ist ihr Assistenzbedürfnis. Wenn ich Krankheiten habe und mobil eingeschränkt bin, muss ich Hilfe in Anspruch nehmen. Dass ambulante Kräfte von einem alten Menschen zum nächsten, von Neubaugebiet zu Neubaugebiet hecheln und stundenlang im Auto sitzen – wie sinnvoll ist das, zumal es ohnehin an Pflegekräften mangelt? Da wäre grundsätzliches Umdenken sehr angebracht.
Aber nicht jeder alte Mensch möchte in einer Wohngemeinschaft leben.
Es braucht mehr Mut zu klugen Wohnformen. Keine Spezialimmobilien, sondern Gebäude, die einer diversen, bunten Gesellschaft Rechnung tragen und die sich von der baulichen Monostruktur verabschieden. Das könnte man auch in Städten organisieren, ein Mehrfamilienhaus mit einem Nachbarschafts-Versorgungskonzept zum Beispiel. Auf einer Grundfläche eines Einfamilienhauses, in dem zwei Personen leben, könnten so zum Beispiel 25 Wohneinheiten entstehen. Zudem ist es so: Was den Gebäudebestand betrifft, haben wir bereits genügend Einfamilienhäuser.
Ja, aber die sind oft alt. Und sanieren ist häufig teurer als abreißen.
Bestandsumbau ist komplexer als Neubau, das stimmt. Deshalb müssen aus unserer Sicht die Planungsinstrumente eine andere motivierende Stoßrichtung bekommen.
Welche?
Dies wäre etwa durch eine CO2-Bepreisung und die Beachtung der Lebenszykluskosten durchaus möglich, müsste politisch aber gewollt und in Rahmen gegossen werden. Ansätze sehen wir im neuen Koalitionsvertrag.
Was bedeuten Lebenszykluskosten?
Man berechnet nicht nur die Herstell-Energie beim Bau. Ein Gebäude verbraucht auch Energie, wenn es zerstört wird, denken Sie an Bauschutt oder andere Altlasten. Das muss eingepreist werden, wenn ein neues Gebäude anstelle eines alten entstehen soll. Wir haben ja auch Nachweisverfahren für die sogenannte graue Energie, also die Energie, die man nicht mehr aufwenden muss, um etwa neue Ziegel für die Hausmauer herzustellen, weil diese Ziegel schon da sind. Wir rechnen heute nicht mit ehrlichen Kosten, denn diese müssten den Ressourcenverbrauch mit abbilden. Da müssen wir präziser werden im Denken.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Wenn ich zum Beispiel überlege, ob eine Fenstersanierung sinnvoll ist, muss ich fragen: Was passiert mit den alten Fenstern, die ich entsorgen muss? Wie viele Energie muss ich dann bei der Einsetzung von neuen Fenstern sparen, um die für die Entsorgung der alten Fenster eingesetzte Energie zu kompensieren?
Wie lässt sich das fördern?
Die KfW-Förderprogramme werden bereits aufgestockt. Wir werben für Unterstützung für altengerechtes Umbauen, für Barrierefreiheit im Bestand. Und wir beklagen die unübersichtliche Förderlandschaft. Das ist leider das Prinzip der Politik: Jeder erfindet ein Förderprogramm, das endet dann nach ein paar Jahren. Doch Projekte laufen ja nicht nur drei Wochen. Wir brauchen da mehr Berechenbarkeit.
Wie finden Leute, die nun doch ein Einfamilienhaus wollen, passende Architekten?
Es hilft zu schauen – in Büchern, in Zeitschriften, auf Internetseiten, die ausgezeichnete Bauten vorstellen, was für Gebäude find ich gut – und dann zu fragen. Die Ambitionen von Architekten und Bauherren müssen zusammenpassen. Es gibt ja auch von der Architektenkammer Auszeichnungen, da kann man sich auf der Homepage durchklicken und qualitätsvolle Büros finden.
Fertighäuser sind immer noch sehr im Mode. Menschen fürchten hohe Kosten, wenn sie Architekten engagieren. Das Ergebnis sind oft gesichtslose Bauten in den Wohnsiedlungen. Wäre es gut, wenn sich junge Architekten, die in renommierten Architekturbüros arbeiten und vielleicht nicht so hohe Stundensätze haben wie ihre Chefs, zum Beispiel in Sachen Eigenheim engagieren? Oder Architekturpreise für Eigenheime auszuloben?
Was nicht geht, ist zu sagen: wir machen die Dinge umsonst. Wichtiger wäre ein Wohnbauzuschuss für junge Familien und familiengerechtes Bauen zu fördern. Qualitätssicherung durch Wettbewerbe funktioniert leider auch nicht immer.
Dennoch: viele Häuser sind architektonisch grenzwertig, das hat die Architekturhistorikerin Turit Fröbe zuletzt in ihrem Buch „Eigenwillige Eigenheime“ dokumentiert. Was ist dagegen zu tun?
Sie bringen mich in die Bredouille. Ich sag mal: Ein Betriebswirt ist noch lange kein Ästhet, auch wenn er „Schöner Wohnen“ liest. Bei der Mehrzahl der Einfamilienhäuser bekommt ein Architekt einen Gähnkrampf. Doch mit Vorschriften und Gesetzen, mit Regulatorik verhindert man oft nur Exzesse, sie bietet aber nicht automatisch Qualität. Es braucht andere Instrumente, um Qualität zu erzeugen, öffentliche Debatten auch über die nachhaltige Nutzung von Quartieren zum Beispiel, so wie sie jetzt bei der Internationalen Bauausstellung stattfinden.
Viele Architekten sagen, Einfamilienhäuser zu bauen, sei wenig lukrativ, sofern es nicht riesige Villen sind. Gibt es deshalb so viele ästhetisch fragwürdige Fertighäuser, weil das für Architekten nicht reizvoll ist?
Der Aufwand ist für uns überproportional, weil die Bauherren oft von Bauprozessen wenig wissen. Bei größeren Wohneinheiten und öffentlichen Bauten hat man es mit Profis zu tun, da besteht weniger Erklärungsbedarf auf Seiten der Bauherren. Eigenheime sind oft grenzwertig finanziert, weil schon der Grundstückspreis enorm hoch ist. Individualität im Einfamilienhaus, das ist also oft eine Lebenslüge. In vielen Siedlungen muss ich den Bauch einziehen, um am Nachbarhaus vorbeizukommen. Oft braucht man zwei Stellplätze pro Haus, das ist absurd. Der Rest ist ein Steingarten und drei Gräser, der von Rasenmäher umgebracht wird.
Und viele Menschen können sich weder in der Stadt noch auf dem Land ein Haus leisten…
Ja, und wenn dann Politiker kommen und sagen, „Einfamilienhaus für alle“, fühlen sie sich nicht angesprochen. Ein Einfamilienhaus in Oberschwaben, wo ich lebe, kostet 800 000 Euro. Wer kann das ohne Erbe finanzieren? Die Politik ideologisiert ein Ideal, das viele sich nicht leisten können. Wenn aber sich weite Bevölkerungsteile eine Wohnung nicht leisten können, dann müssen wir daran arbeiten und das ernst nehmen, auch in Wahlkampfzeiten. Dann dürfen wir keine Scheindebatten führen.
In Städten ist auch Leerstand ein Problem. Manche Politiker würden dies gern verbieten.
Es gibt Gründe, warum Menschen Wohnungen leer stehen lassen. Man sollte ihnen nicht mit der Moralkeule kommen, sondern an den Gründen arbeiten. Zum Beispiel mit Initiativen auf kommunaler Ebene, die die Vermieter bei der Auswahl von potentiellen Mietern begleiten. Es ist richtig und wichtig, dass wir als Gesellschaft sorgsam miteinander umgehen, aber eben auch mit Leuten, die kein zerstörtes oder verwahrlostes Eigentum wollen. Man könnte auf diese Weise 5000 Wohnung in Baden-Württemberg generieren, damit wären 13 bis 14 Prozent des Problems fehlender Wohnungen in Baden-Württemberg gelöst.
Stuttgarts OB Nopper schlug im Wahlkampf vor, das Wohnproblem mit Dachausbauten zu lösen. Was sagen Sie dazu?
Schaut man sich die Häuser an, die es gibt, muss man viele Aspekte beachten, wenn man allein ein Stockwerk aufbauen will: den Aspekt Brandschutz, und die Landesbauordnung mit Gebäudeordnung, Abstandsregeln und Bebauungsplänen, dazu gibt es Barrierefreiheitspflichten und Aufzugspflichten, Gerüste und die Notwendigkeit einer Absturzsicherung bei mehr als fünf Geschossen. Und dann haben Sie immer eine Phase, in der das Gebäude nicht abgedichtet ist. Das ist also nicht trivial, so ein Aufbau. Potenzial ist da, aber es ist nur ein Baustein. So heterogen wie die Städte sind, sind auch die Lösungen.
Haben Sie Beispiele?
Es ist städtebaulich extrem sinnvoll, auf einer Fläche mehr Nutzung unterzubringen und zudem die Monofunktionalität zu knacken in den Städten. Zum Beispiel eingeschossige Einkaufsgebäude und dazu riesige Parkierungsflächen – dass man das überhaupt akzeptiert, ist eine Zumutung. Um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, hilft nur Reden, öffentliches Diskutieren, und man muss die Lufthoheit der Stammtische erobern. Dazu muss man überzeugende Argumente haben. Ich habe 15 Jahre in der Kommunalpolitik gearbeitet und ich finde, die Bürger haben einen Anspruch auf vernünftige Argumente. „Alternativlos“ zu sagen, das geht nicht.
Sondern?
Es gab eine gesamtgesellschaftliche Phase des Neoliberalismus, wo die Überzeugung herrschte, der Markt macht alles richtig und privat gehe grundsätzlich vor öffentlich. Heute wird in der Neuen Leipzig Charta wieder das Gemeinwohl als hehres Ziel von Stadtplanung und Stadtentwicklung betrachtet. Die Demokratie ist ein lernendes System, sie passt sich an. Wenn wir attraktive Innenstädte wollen, müssen wir daran arbeiten und uns auch fragen: was gefährdet solche Qualitäten? Das ist die Aufgabe von kluger Stadtplanung.
Info zur Person
Markus Müller wurde 1965 in Meckenbeuren (Bodenseekreis) geboren. Der Architekt und Stadtplaner ist seit 2014 Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg. Er studierte Architektur und Stadtplanung an der Universität Stuttgart.
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