Ist Ihr Lieblingsalbum dabei? Zu unseren Favoriten zählten 2023 die Veröffentlichungen von Caroline Polachek, Nina Chuba, Monika Roscher, Lana del Rey, Oliva Rodrigo, Yo La Tengo und All diese Gewalt (von links oben im Uhrzeigersinn). Foto: Label

Olivia Rodrigo, Max Rieger oder Nina Chuba? Kritikerinnen und Kritiker der Redaktion küren ihre Lieblingsalben des Jahres 2023.

Ein aufregendes Popjahr geht zu Ende, das uns ein neues Album der Rolling Stones („Hackney Diamonds“), eine neue Single der Beatles („Now and Then“) und mit Taylor Swift einen Superstar beschert hat, der auch ohne neue Platte im Jahr 2023 ein mediales Dauerthema war.

Wie stets im Dezember beginnen Musikmagazine damit, Bestenlisten zu veröffentlichen. Die des US-„Rolling Stone“ führt etwa die R-’n’-B-Sängerin SZA („SOS“) an – gefolgt von der Indie-Supergroup Boygenius („The Record“) und dem Puerto-Ricaner Tainy („Data“). Beim britischen „NME“ schaffen es Boygenius an die Spitze vor Oliva Rodrigo („Guts“) und dem schottischen Trio Young Fathers („Heavy Heavy“).

7 x 3 Lieblingsalben der Redaktion

Und wer waren unsere Lieblinge des Jahres? Sieben Pop-Kritikerinnen und Pop-Kritiker unserer Zeitung küren die ihrer Meinung nach besten Alben des Jahres 2023.


Bernd Haasis

Platz 3 – Sleep Token: Take Me Back to Eden (‎Pias/Spinefarm/Rough Trade)

Die Band Sleep Token aus London maskiert sich als kultische Vereinigung – „Turn me into your mannequin and I’ll turn you into my puppet queen“, singt der Sänger Vessel programmatisch in „Ascensionism“. Das Quintett spielt einen aberwitzigen Mix aus autogetuntem Düsterpop und infernalischem Progressive Metal, der atemlos macht, perfekt die prä-apokalyptische Stimmung der Gegenwart einfängt und via Tiktok weit übers typische Metalpublikum hinaus wirkt. Anders als bei früheren Masken-Bands wie Slipknot oder Ghost wollen die überwiegend jungen Fans ihre Idole nicht demaskieren – damit die sagenhafte Maskenball-Melancholie möglichst lange andauert.

Platz 2 – Cécile McLorin Salvant: Mélusine (Nonesuch/Warner)

Ein dunkles Feuer lodert in der Stimme der Grammy-Preisträgerin Cécile McLorin Salvant, in Miami geborene Tochter eines Haitianers und einer Französin. Auf ihrem ersten frankophonen Album feiert sie Chansons wie „La route enchantée“ (Charles Trenet ) und „Le temps est assassin“ (Véronique Sanson). Sie weitet das Bild mit afro-karibischen Vibes („Il m‘a vu nue“, „Doudou“) und singt das mittelalterliche „Dame Iseut“ auf Haitianischem Kreyòl. Im barocken „D’un feu secret“ greift Salvant nach den Herzen und lässt die Töne kunstvoll glimmen, züngeln, aufflammen – grandios.

Platz 1 – Monika Roscher Bigband: Witchy Activities and the Maple Death (Zenna Records/Membran)

Die Münchner Sängerin und Gitarristin Monika Roscher betört mit griffigen Indie-Pop-Songs, doch sie gibt sich mit der kleinen Form nicht zufrieden. Mit einer starken Big Band im Rücken erschafft sie vielgestaltige Klangwelten mit hypnotischen Rhythmen, die vor wundersamen Stimmungen nur so vibrieren und schimmern. Mal treten Bläser nach vorne, mal ein einsames Klavier, ein Hauch von Varieté schwingt mit in „Creatures of Dawn“. In „A Taste of the Apocalypse“, einem wehmütigen Soundtrack zur Krise, wird Roscher hymnisch und fragt glockenhell: „Are we just ghosts?“


Kathrin Horster

Platz 3 – Everything But The Girl: Fuse (Buzzin’ Fly /Virgin)

Seit „Temperamental“, dem letzten Electronica-Album von Tracy Thorn und Ben Watt, hat sich die Welt dramatisch verändert. Doch das Duo macht da weiter, wo es 1999 aufgehört hat. Aber nur fast: Tracy Thorns Stimme und Stimmung sind merklich nachgedunkelt, im Song „Lost“ singt die 61-jährige von verlorenen Taschen und Freunden, vom Verlust der Mutter. „Forever“ beschwört mit seinen hell klatschenden Clubbeats wieder den Dancefloor der guten alten Nineties, und Tracy fleht:„Give me something I can hold on to“. Bittersüß!

Platz 2 – Blur: The Ballad of Darren (Parlophone)

In „Russian Strings“ singt Damon Albarn davon, wie das Weltende unter Kopfhörern klingt. Mit der Zeile „When you pull the lever down/ I’ll be hitting the hard stuff“ erweist er vielleicht dem russischen Präsidenten grausige Referenz. Die zehn Songs des neuesten kleinen Geniestreichs der Band seit acht Jahren erzählen böse, traurige, schöne Geschichten von Leben und Tod. Besonders toll: Das manisch-fröhliche, treibende „Narcissist“ – und wie Albarns Timbre manchmal für einen flüchtigen Moment nach dem des 2016 verstorbenen David Bowie klingt.

Platz 1 – Yo La Tengo: This Stupid World (Matador)

Entstanden in Sessions vor der Pandemie und der Zeit danach, erzählt der virtuos grollende, schrammelnde, kratzende, lärmende Gitarren-Indie-Rock von James McNew, Georgia Hubley und Ira Kaplan von Wut und Trauer, aber auch vom Widerstand gegen das Blei der Zeit. Mit dem euphorisch mäandernden „Fallout“ kann man sich aus jedem Schlamassel retten, „Sinatra Drive Breakdown“ klingt wie ein energiegeladener Sturm der Entrüstung mit tobender Gitarre, der stille Gesang setzt ironisches Understatement dagegen. Wahnsinn!


Swantje Kubillus

Platz 3 – Agar Agar: Player Non Player (Grönland/Rough Trade)

Agar Agar sind keinesfalls mit japanischer Gelatine zu verwechseln, denn das Pariser Synth-Pop-Duo, das seit 2015 fester Bestandteil von Clubraum erfüllender Techno-Leichtigkeit ist, schmiegt sich ganz stoffungebunden an das Corti-Organ zur Reizweiterleitung. Mit „Player Non Player“ gab es Anfang des Jahres ihre zweite LP und damit Bereicherung für romantisch-surreale Ausflüge ins elektronische Klangparadies – jagend und ansteckend. Gaming ist nicht nur Thema von Titel und LP-Cover, sondern auch in den Tracks zu finden. Flutschig, flink und perfekt als Fahrzeugbegleitung.

Paltz 2 – All diese Gewalt: Alles ist nur Übergang (Glitterhouse Records/Indigo)

Max Riegers Solo-Projekt All diese Gewalt ist vielleicht so etwas wie der kreativ-explosive Atemzug aus dem Bauch der Melancholie. Der Sänger und Gitarrist von Die Nerven sowie Genius der Indie-Szene, zeigt überführt auf „Alles ist nur Übergang“ dunkle Gefühle und Traurigkeit in die schönsten Hoffnungsklänge – von der Sphäre in den Schlund und wieder zurück; im richtigen Monat November erschienen, und noch rechtzeitig, damit 2023 „Danke“ sagen kann und sich schon auf 2024 freut.

Platz 1 – Caroline Polachek: Desire, I Want to Turn Into You (‎Perpetual Novice/Membran)

Mit „Desire, I Want to Turn Into You“ hat sich Caroline Polachek in diesem Jahr an erster Stelle in den Artpop-Himmel katapultiert. Die Stimme der amerikanischen Sängerin mit dem Brooklyn-Vibe reicht nicht nur über vier Oktaven und schmiegt sich dann an goldene Hyperpop-Synths und elektronische Drums an, sie schreibt auch noch Songs für Beyoncé oder kollaboriert mit Christine and the Queens. „Welcome To My Island“ oder „Bunny Is a Rider“ scheinen Pflicht für die Dauerschleife, und das Jahr ist noch nicht mal zu Ende.


Katrin Maier-Sohn

Platz 3 – Element of Crime: Morgens um vier (Vertigo/Universal)

Die Band Element of Crime rund um den Musiker und Autor Sven Regener weiß auch fast vierzig Jahre nach ihrer Gründung noch wie der Hase beziehungsweise die Katze läuft. In ihrem Song „Unscharf mit Katze“ – der übrigens einer der besten auf dem neuen Album ist – heißt es: „Wir haben keine Ahnung/Wir haben Bilder.“ Und es stimmt: Auf dem Album „Morgens um vier“ malt die Band in gewohnter Weise mit ihren Liedtexten Bilder. Immer etwas rätselhaft, nüchtern und mit viel Platz für eigene Interpretationen.

Platz 2 – 01099: Blaue Stunden (Bamboo)

Deutsch-Rap geht auch ohne sexistische Sprache. Auch auf ihrem dritten Album kommen die Jugendfreunde Gustav, Paul und Zachi von 01099 ohne frauenfeindliche oder vulgäre Ausdrücke aus. Dafür gibt es wieder eine große Priese Melancholie. Der Albumtitel „Blaue Stunden“ spielt auf die kurze Phase zwischen Tag und Nacht an, wenn der Himmel noch nicht ganz dunkel ist und die Blautöne dominieren. In den Tracks der Dresdner Jungs geht es genau um diese Stunden, um lange Partynächte mit der Crew, betrunkene SMS und Liebeskummer. Für Junge und Junggebliebene.

Platz 1 – Nina Chuba: Glas (Jive/Sony)

Was für ein Debüt-Album! Nina Chuba, anfangs immer noch als ehemalige Kinderdarstellerin aus den „Pfefferkörnern“ betitelt, zeigt mit „Glas“, dass die Zeiten von Kika-Auftritten und Klein-Mädchen-Image endgültig vorbei sind. Ihr Hit „Wildberry Lillet“ aus dem letzten Jahr stürmte die Charts und ließ vermuten, dass da noch Gutes kommt. Und was soll man sagen, die Erwartungen wurden erfüllt: Songs wie „Mangos mit Chili“ und „Ich hass dich“ ihres ersten Albums sind energiegeladen, mutig und laut. Man kann sich nur auf mehr freuen.


Gunther Reinhardt

Platz 3 – Culk: Generation Maximum (Siluh/Cargo)

Wo sind all die Radiohead-Fans, wenn Culk auftreten? Dass die wunderbar eigenwillige Wiener Band noch in kleinen Clubs spielt und als Geheimtipp gilt, könnte sich durch „Generation Maximum“ ändern. Falls es im Pop Gerechtigkeit gibt. Der Titelsong zum Beispiel ist ein Postpunk-Meisterwerk, das sich zu einem sperrigen Industrial-Loop hin und her windet, während Sophie Löw Sätze singt wie: „Wer sich heute nicht mehr wehrt, wird übrig bleiben.“ In ihrem Soloprojekt Sophia Blenda verpackt sie ihre poetischen Erkundungen persönlicher und gesellschaftlicher Widersprüche in Kammerpop, mit Culk inszeniert sie Songs wie „www“, „Eisenkleid“ oder „Dein Gehen“ als komplex-filigrane Artrock-Kostbarkeiten, die eine verstörende Eindringlichkeit entfalten.

Platz 2 – Black Pumas: Chronicles Of A Diamond (ATO/Pias)

Hier die erstaunliche Stimme und die tollen Songideen von Eric Burton, da der einfallsreiche Musiker und Produzent Adrian Quesada, der diese stets außergewöhnlich umsetzt – etwa, wenn er in die von einer Akustikgitarre bestimmte Soulballade „Angel“ ein Mellotron schummelt oder in „Hello“ einen Synthie-Loop. All diese hypnotisch groovenden Songs ergeben jedenfalls zusammen ein Meisterwerk aus Jazz, Funk, Blues, Rock’n’Roll und Soul. Und wenn die Black Pumas wieder lauter Grammy-Nominierungen bekommen, aber nichts gewinnen, dann ist wirklich was faul in der Welt der schönen Dinge und schönen Melodien, von der der Song „More Than A Love Song“ erzählt.

Platz 1- Oliva Rodrigo: Guts (Interscope/Universal)

Dass dieses ehemalige Disney-Girl nicht für immer und ewig niedlich und brav sein will, deutete sie schon vor zwei Jahren in ihrem Hit „Drivers License“ an, in den sie – versteckt in viel Wehmut – ein schlimmes Wort schmuggelte. Nun liefert Olivia Rodrigo mit dem Album „Guts“ den perfekten Coming-of-Age-Soundtrack ab – mit sich selbst in der Rolle des manisch-depressiven Teenagers: Mit Punkpop wehrt sie sich gegen Gender-Stereotypen („all-american bitch“), in Rants rechnet sich mit dem Ex ab („get him back!“), mit Indiepophymnen vertont sie eigene Unsicherheiten („pretty isn’t pretty“), und in der Ballade „Vampire“ beschert sie uns das beste Reimpaar des Jahres: „Bloodsucker! Famefucker!“ Oops, da ist es schon wieder, das schlimme Wort.


Björn Springorum

Platz 3 – Tristan Brusch: Am Wahn (‎Four Music/Tautorat Tonträger/Sony Music)

Tristan Brusch scheut die große Geste nicht. Mit „Am Wahn“ erfüllt sich der durchaus exzentrische, aber eben auch mindestens so geniale Musiker den Traum von einem großen, schwelgerischen Popalbum. Zum bittersüß-französischen Pop-Sound der Sechziger exorziert er die Dämonen einer grässlich schiefgegangenen Beziehung, starrt munter in den Abgrund und lässt ihn freigiebig zurückstarren. Bevor das alles zu kitschig wird, lässt Brusch seine Musik, Kippe nonchalant im Mundwinkel, immer wieder genussvoll in den Wahn abgleiten.

Platz 2 – Boygenius: The Record (Interscope/Universal)

Bands sind mehr als die Summe ihrer Teile. Nie mehr so als bei „The Record“, dem staunenswerten Debüt von Boygenius. Die Freundinnen Julien Baker, Phoebe Bridgers und Lucy Dacus sind jede für sich legitime Indie-Superstars, Ikonen einer diversen, queeren DIY-Folk-Bewegung. Im Alleingang bringen sie den inhärent männlichen Indie-Band-Club zu Fall, nach dem sie sich augenzwinkernd benannt haben – mit einem mal melancholischen, mal schrammelnden Album, das sie alle separat aufscheinen und doch gemeinsam erstrahlen lässt.

Platz 1 – Lana del Rey: Did You Know That There’s A Tunnel Under Ocean Blvd (Urban/Universal)

Seit den frühen Tagen ihrer Karriere schreibt Lana del Rey an ihrer eigenen Mythologie. Ihr Pantheon besteht aus all den gefallenen Engeln der Halbwelt Los Angeles, ihre Musik changiert offen wie nie zwischen Americana und Pop, zwischen Folk und Gospel. Mit „Did You Know That There’s A Tunnel Under Ocean Blvd“, ihrem bislang besten Album, erweist sie sich endgültig als große Kontributorin zum Great American Songbook. Sie rückt vor auf eine Stufe mit den großen Stimmen des Americana, wird mehr und mehr zur Joni Mitchell der Gegenwart.


Petra Xayaphoum

Platz 3 – Lola Young: My Mind Wanders and Sometimes Leaves Completely (Island/Universal)

Der „Guardian“ vergleicht sie mit Lily Allen und Kae Tempest und tut der jungen Londonerin damit nicht unrecht, denn sie hat eine unverblümt-direkte Art, die Dinge auszusprechen, wie sie sind, und dabei trotzdem wie ein Adele-artiger Engel zu klingen. „Du sagtest, ich sei verdammt langweilig, nun ja, das musst gerade du sagen“ singt sie auf „Don’t Hate Me“, übrigens der beste Song des Albums und ein gutes Aushängeschild für dieses fantastische wütend-traurig-selbstfindende Coming-of-age-Werk. Fun Fact: Hinter Young steckt Amy-Winehouse-Manager Nick Shymansky. (px)

Platz 2 – Hotel Rimini: Allein unter Möbeln (Hotel Rimini)

Dieses in Eigenproduktion entstandene Debütalbum der Leipziger Band Hotel Rimini ist ein großer Aufschlag. Heitere Traurigkeit, Streichinstrumente, chansonig zu Text gebrachte Beobachtungen des Zeitgeists und die beruhigend-tiefe Stimme von Sänger Julius Forster, die an den richtigen Stellen raspelig klingt: Das hat etwas Bühnenstückartiges und gleichzeitig sympathisch Rumpeliges, wie wenn das Kammermusikorchester einen geheimen Low-Key-Gig in der verrauchten Kneipe ums Eck gibt. An der Gitarre hört man übrigens Trümmer-Musiker Paul Pötsch. (px)

Platz 1 – All diese Gewalt: Alles ist nur Übergang (Glitterhouse Records/Indigo)

Kaum einer spielt im deutschsprachigen Raum auf der Klaviatur der seelischen Schwere so gut wie Max Rieger. Mal langsam in einem großen Showdown kulminierend wie in „Beleuchtete Höhle“, mal durch und durch laut, gewalttätig und disruptiv wie in „Ab AB ab“ oder gen Ende der Platte fast schon versöhnlich abklingend in „Ihr seid nicht allein“. Es hat was von barocker Vanitas-Literatur, die mit Drones, Noise, Klavierpassagen und teils Chören von einer melancholisch-sinnierenden Künstlerseele vertont wurden. Wunderschön dark und abgründig.