Der unter Missbrauchsverdacht stehende verstorbene Kardinal Franz Hengsbach war im Bistum Essen sakrosankt, Negatives unsagbar. Nun trauen sich immer mehr Menschen, über den Missbrauch durch den 1991 verstorbenen Bischof und schlechte Erfahrungen mit ihm zu sprechen.
Nach den Missbrauchsvorwürfen gegen den verstorbenen katholischen Kardinal Franz Hengsbach (1910-1991) sind beim Bistum Essen nach Aussage von Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck auch eine „Reihe von Hinweisen“ eingegangen, die nichts mit sexueller Gewalt zu tun haben. Sie würden „auf eine Ambivalenz des Gründerbischofs hinweisen, die lange Zeit offenbar tabuisiert war“, sagte Overbeck.
„Tiefer Fall einer bischöflichen Identifikationsfigur“
„Wir erleben gerade in unserem Bistum ein regelrechtes Erdbeben, weil mit diesem tiefen Fall einer bischöflichen Identifikationsfigur auch eine Idealvorstellung von Kirche zerbricht“, erklärte der Essener Oberhirte. Das sei schwer auszuhalten. „Mir ist bewusst, wie sehr das viele Menschen in unserem Bistum gerade zerreißt. Aber es führt kein Weg daran vorbei, uns diesen bitteren Realitäten zu stellen. Das ist ein Teil von Aufarbeitung.“
„Ich habe mir lange gar nicht vorstellen können, dass so etwas auch durch einen Kardinal und Bischof, zudem noch meinen Vorgänger als Bischof von Essen, hätte geschehen können.“ Das Entsetzen sei auch deshalb so groß, weil Hengsbach eine wichtige Identifikationsfigur gewesen sei, betonte Overbeck. „Aber die Fakten sprechen jetzt eine andere Sprache und so musste ich auch entsprechend reagieren.“
Bischof entschuldigt sich für Fehlverhalten
Overbeck hatte sich in einem Brief, der am Sonntag im Gottesdienst verlesen wurde, für seinen Umgang mit den Hengsbach-Vorwürfen entschuldigt. Er hatte demnach bereits 2011 von ersten Vorwürfen gegen Hengsbach in Paderborn erfahren, sich aber auf die Auskunft aus Rom verlassen, dass die Vorwürfe nicht plausibel seien und deshalb nichts weiter unternommen. Dies bezeichnete Overbeck im Rückblick als Fehler.
Kardinal hatte „autoritäre Züge“
Für Generalvikar Klaus Pfeffer ist klar, dass sich der Umgang mit vermeintlichen „Lichtgestalten“ ändern muss. Pfeffer sagte gegenüber dem Kirchensender „Domradio“, dass eine ganze Reihe von Rückmeldungen auffallend sei, die sich auf negative persönliche Erfahrungen mit dem verstorbenen Ruhrbischof beziehen.
Hengsbach sei eine ambivalente Person gewesen. „Franz Hengsbach war natürlich eine bedeutende Figur fürs Ruhrgebiet, eine Identifikationsfigur, aber auch ein sehr konservativer Vertreter des Bischofsamtes, der teilweise sehr autoritäre Züge haben konnte.“ Pfeffer zufolge würden sich erst jetzt viele Menschen trauen, unerfreuliche Erfahrungen mit Hengsbach anzusprechen: „Das ist lange Zeit bei uns im Bistum nicht besprechbar gewesen.“
Für den Generalvikar sind die aktuellen Entwicklungen im Fall Hengsbach von grundsätzlicher Bedeutung: „Wir neigen dazu und vielleicht in der Vergangenheit noch stärker als heute, Persönlichkeiten schnell zu idealisieren, auf ein Podest im wahrsten Sinne des Wortes zu stellen.“ Das sei in der katholischen Kirche oft stark mit dem Amt verbunden und berge Gefahren, da man so die ambivalenten Seiten einer Persönlichkeit gar nicht mehr sehe. „Das könnte vielleicht auch unser Amtsverständnis noch mal relativieren“, so Pfeffer weiter.
„Die alte Heiligenverehrung in der Kirche geht nicht mehr“
Der Sektenbeauftragte des Bistums Essen, Pfarrer Gary Albrecht, betonte, dass Hengsbach, der im Bistum Essen und zum Teil weit darüber hinaus noch bis vor ein paar Tagen „wie ein Heiliger verehrt wurde, nun „buchstäblich von seinem Denkmal gestoßen worden“ sei. Die „alte Heldenverehrung“ würde heute nicht mehr gehen. Der gerade für die katholische Kirche typische Personenkult sei obsolet geworden.
Vergangene Woche hatte das Bistum Essen mitgeteilt, es bestehe der „gravierende“ Verdacht, dass Hengsbach in seiner Zeit als Weihbischof in Paderborn in den 1950er Jahren eine 16-Jährige sexuell missbraucht habe. Außerdem beschuldigt eine Frau Hengsbach eines weiteren Übergriffs im Jahr 1967 in seiner Essener Zeit als Bischof. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, sieht bei dem 1991 verstorbenen Bischof ein „verbrecherisches Verhalten“ am Werk.
Hengsbach-Denkmal ist abmontiert und eingemottet
Das Denkmal Hengsbachs vor dem Essener Dom war 25. September abgebaut worden. Monteure lösten am Montagmorgen (25. September) die Halterungen der tonnenschweren Bronzestatue und ein Kran hievte sie auf einen Lastwagen. Auch ein Schild mit den Lebensdaten des Kardinals wurde entfernt. Die Skulptur soll nun eingelagert werden.
Betroffenenvertreter und die Reforminitiative Maria 2.0 hatten zuvor die Entfernung der überlebensgroßen Statue des hohen Geistlichen gefordert. Missbrauchsopfer hatten eine Mahnwache vor der Hengsbach-Skulptur abgehalten. Das Denkmal der Bildhauerin Silke Rehberg war im Oktober 2011 von dem amtierenden Essener Bischof Franz-Josef Overbeck enthüllt worden.
Reste an Vertrauen in die Kirche zerstört
Die mutmaßlichen Taten und die abermals dokumentierte Vertuschungsstrategie der Kirche zerstörten die Reste an Vertrauen, erklärt die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp.
„Wieder entsteht der Eindruck, dass nicht die Betroffenen, sondern die Täter geschützt wurden.“Eine erste Überprüfung des ZdK-Archivs habe keine Hinweise auf Kontakte zu den gegen Hengsbach erhobenen Vorwürfen ergeben, erklärte Stetter-Karp. Die Korrespondenz werde aber weiter gesichtet. Hengsbach war ab 1947 ZdK-Generalsekretär und von 1953 bis 1968 bischöflicher Generalassistent des Komitees.