Selbst komponierter Rock in der Probezelle mit den Crash Stereotypes. Foto: Achim Zweygarth

Im ehemaligen Schutzraum und der späteren Herberge der Caritas am Marienplatz proben heute 20 Bands.

Stuttgart/Süd - Die Fünfjährige ist fasziniert von der zugemüllten Treppe, die hinab führt in ein schwarzes Loch, so ähnlich wie bei “Alice im Wunderland“. Doch ihre Mutter verhindert, dass die kleine Entdeckerin der Sache auf den Grund geht. Wenn das markante Gittertor gegenüber des Lebensmittelgeschäfts auf der Westseite des Marienplatzes für längere Zeit offen steht, kommt aber tatsächlich öfter unverhoffter Besuch in den unterirdischen Bunker, erzählt Tobias Köngeter. Er ist Gitarrist bei den Crash Stereotypes, zuvor spielte er in anderen Formationen und steigt seit seinem 14. Lebensjahr diese Treppe mehrmals in der Woche hinab.

Der 22-jährige ist Mieter eines Probenraumes im ehemaligen Schutzraum. Zwei Heizlüfter pusten lauwarme Luft in den Raum – allerdings nur solange, bis Philipp Gräfe seinen Bass wummern lässt, Thomas Fecker lauthals ins Mikrofon singt und Köngeter zur elektrischen Gitarre greift. Die einzige Steckdose verkraftet Heizung und Sound nicht gleichzeitig. Letzterer geht sofort in die Magengrube, denn Stefan Dekant bestimmt mit seinem Schlagzeug die allgemeine Lautstärke und bringt damit auch ein ausrangiertes Becken, das nebenan in einem Tonstudio steht, zum unfreiwilligen Mitschwingen.

Der Versuch, die Akustik in dem kleinen Raum mit seinen 30 Zentimeter dicken Wänden mit Hilfe von Eierkartons verbessern ist gescheitert: Zwei quadratische Paletten für frische Eier pappen auf dem Verputz, der klägliche Rest einer früheren Aktion. „Es ist zu feucht. Sie haften nicht richtig“, sagt Köngeter. „Aber es gibt Bands, die haben ihren Raum mit Teppichen isoliert. Dann ist der Sound viel besser.“

Lange Warteliste für den Marienplatzbunker

Die Probenräume unter Tage sind begehrt: 20 Bands proben hier und wer ein paar Quadratmeter ergattert hat, verlässt sie nicht mehr oder gibt sie an Freunde weiter, so wie die Crash Stereotypes. Sie werden künftig in einem Raum in Fellbach die Wände zum Zittern bringen, weil der Ort in ihrer aktuellen Konstellation günstiger ist, und weil die Elektronik im Bunker mit der Dauerfeuchtigkeit auf Kriegsfuß steht.

Köngeter hat als Mieter des 24 Quadratmeter großen Bunkerraums bei der Stadt 72 Euro pro Monat bezahlt. Ein äußerst günstiger Preis, betont er: „Probenräume auf dem freien Markt und außerhalb der Stadt kosten etwa 400 Euro im Monat“, sagt er. Kein Wunder, dass die Warteliste für den Marienplatzbunker vier Jahre beträgt. Seit 1991 vermietet die Stadt an lautstarke Bands. „Allerdings gibt es keinen Lastenaufzug für das Equipment. Wir müssen die ganze Anlage für jeden Auftritt über die Treppe schleppen“, sagt Köngeter.

Dafür aber haben er und die Crash Stereotypes eine Luxussuite unter der Erde. Der quadratisch gebaute Marienplatzbunker mit 1500 Quadratmetern Fläche und mit 1700 Schutzplätzen diente der Caritas nach dem Krieg als Herberge mit durchnummerierten Zellen rechts und links der Flure. Gerade einmal sechs Quadratmeter misst eine solche Kammer. 180 Betten brachte die Caritas so in der spartanischen Absteige unter. 50 Pfennig kostete 1949 die Übernachtung mit fließendem Wasser und Strom. Bei dieser Ausstattung ist es bis heute geblieben. Tobias Köngeter und seine Band belegen vier Zellen. Ihre Vorgänger haben die Wände selbst herausgeschlagen, auch andere Bands haben sich so Platz für Schlagzeug und Verstärker geschaffen. Mit ihren Logos in Leuchtfarbe und der Graffiti auf Türen und Wänden haben sie ihre Markenzeichen gesetzt.

Noch in den 80er Jahren hingen auf den Fluren Mitteilungen ausgebombter Stuttgarter, berichtet der Verein „Forschungsgruppe Untertage“, der sich mit der Geschichte der Schutzbauten beschäftigt. Neben der Tür zum Raum der Crash Stereotypes zeugt ein stattlicher Riss in Wand und Decke von einer Sprengbombe, die den Bunker im Juli 1944 traf. 15 Menschen wurden getötet, 22 verletzt. Ein gespenstischer Ort, an dem weder Mobiltelefon noch Internet funktionieren. Aber ganz so einsam ist es gar nicht, sagt Köngeter: „Wenn man leise ist, kann man die anderen Bands proben hören.“